Frankfurter Rundschau, 21.3.2000

Ein Volk ohne eigenen Staat

Im Hintergrund: Der Kurdenkonflikt ist alt

Von Gerd Höhler

"Kurd haweni nia", lautet ein altes kurdisches Sprichwort, "die Kurden haben keine Schirmherren". Verteilt auf sechs Länder leben rund 25 Millionen Kurden in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet zwischen dem Taurus, dem Zagrosgebirge und dem Großen Kaukasus. Eine weitere Million Kurden dürfte in Westeuropa leben, die meisten von ihnen, rund 500 000, in Deutschland.

Der Traum von einem eigenen Kurdenstaat scheiterte mal an Stammesfehden, mal an religiösen Gegensätzen zwischen sunnitischen und schiitischen Kurden, vor allem aber an den rivalisierenden Interessen der Staaten in der Region. Immer wieder sahen sich die Kurden als Schachfiguren in den nahöstlichen Machtkämpfen: erst nützlich, dann aber geopfert. In ihrem Streben nach Selbstbestimmung gingen sie oftmals die absurdesten Allianzen ein und wurden hernach von ihren vermeintlichen Verbündeten immer wieder fallen gelassen. Mustafa Kemal, Gründer der modernen Türkei, mobilisierte kurdische Stämme gegen die nach Kleinasien vorrückenden Griechen im Westen, gegen Armenier und Georgier im Nordosten. Doch nach der Gründung der Republik ging er zu einer anderen Kurdenpolitik über. Assimilierung hieß nun das Ziel. Die neue Türkei kannte nur noch stolze Türken. Mehrere Kurdenrevolten wurden blutig niedergeschlagen. 1924 ließ Kemal alle kurdischen Schulen schließen, kurdische Vereine und Publikationen verbieten. Die seinerzeitige Revolte zeigt viele Parallelen zum Kurdenkonflikt unserer Tage: wie heute wurden damals zahllose kurdische Dörfer zerstört und die Bewohner aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten vertrieben. Auch andernorts wurden die Kurden Opfer von Verfolgung. In Iran paktierten sie zwar mit den Mullahs zum Sturz des Schah, doch Khomeiny unterdrückte die Minderheit nach seiner Machtergreifung noch brutaler als das Schah-Regime. Saddam Hussein bemühte sich, die iranischen Kurden als Verbündete gegen Teheran zu gewinnen, liess dann aber tausende irakischer Kurden mit Giftgas ermorden.

In der Türkei kämpfte unterdessen die 1978 gegründete, aus mehreren marxistischen, zunächst gar nicht ethnisch definierten Splittergruppen hervorgegangene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) für einen eigenen Kurdenstaat. Dass dieser anfangs unbedeutende Zirkel bald zu einer Massenbewegung anwuchs, war vor allem ein Resultat der sozialen und wirtschaftlichen Misere in der jahrzehntelang gezielt vernachlässigten Kurdenregion und Ergebnis der Unterdrückung der kulturellen Identität der Kurden. So verboten es die 1980 putschenden Militärs kurdischen Eltern sogar, in den eigenen vier Wänden mit ihren Kindern Kurdisch zu sprechen. Ohne das Sprachverbot, so räumte selbst PKK-Chef Abdullah Öcalan kürzlich ein, hätte die PKK niemals einen solchen Zulauf bekommen.

PKK strebt politische Rolle an

Der 1984 von der PKK aufgenommene bewaffnete Kampf, der seither über 35 000 Tote gefordert haben dürfte, brachte die türkischen Kurden aber der Autonomie genauso wenig näher wie die früheren Aufstände. Die Forderung nach einem eigenen Staat ließ die PKK schon vor einigen Jahren fallen. Nach Öcalans Festnahme vor einem Jahr und dessen Verurteilung zum Tode hat sie nun auch ihre Revolte beendet. Obwohl sich einige abtrünnige PKK-Kommandeure noch weigern, die Waffen zu strecken, ist die PKK militärisch am Ende. Sie sucht nun eine neue, politische Rolle. Die Politiker in Ankara aber lehnen, wie auch die eigentlichen Machthaber, die Militärs, jeden Dialog über eine politische Lösung der Kurdenfrage ab, auch wenn die Europäer noch so drängen. EU-Kommissar Günter Verheugen musste sich jetzt in Ankara von Ministerpräsident Bülent Ecevit öffentlich belehren lassen, jene "Kurdenfrage", deren Lösung die EU anmahnt, gebe es gar nicht. Die "Probleme im Südosten", so Ecevit, seien vielmehr Resultat der feudalen Strukturen und Ergebnis der "Versuche bestimmter ausländischer Mächte Anfang des 20. Jahrhunderts, die Türkei zu teilen".