Frankfurter Rundschau, 21.3.2000

Auf dem Weg zur östlichsten EU-Metropole

Kurdenstadt Diyarbakir zwischen Not und Neubauten

Von Hans Engels (Diyarbakir)

Ein lustig hüpfender Donald Duck prangt dutzendfach. Kinder kreischen vergnügt im Elektro-Kart. Zwischen Müttern mit und ohne Kopftuch zwängen sich jugendliche Beauties mit glitzerndem Knopf im Nasenflügel hindurch zum Kriegsspiel-Daddelautomaten, an dem ihre Freunde es kräftig krachen lassen. Dann fällt, wie überall in der Stadt, mal wieder der Strom aus, und ist nach einer Minute, wie meistens, wieder da. Und das Vergnügen im "Diyarland", wie der Spielsalon im vierten Stock der Einkaufsmall "Diyar Galeria" heißt, kann weitergehen. In der vier Monate alten Diyar Galeria trifft man sich und wird gesehen auf vier Etagen mit Erlebnisgastronomie, Boutiquen und vier Kinos. Hier erinnert nichts mehr an die Not des Alltags draußen. Nebenan glitzert der Marmor-Glas-Neubau der türkischen Edel-Hotelkette "Dedeman". Zwei Tempel der Hoffnung auf ökonomisch-sozialen Aufschwung.

"Diyarbakir", sagt Vize-Bürgermeister Bülent Ipek von der pro-kurdischen Partei "Hadep", dessen Büro wie alle Amtszimmer in der Türkei ein Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal ("Atatürk") ziert, "wird die östlichste Metropole der Europäischen Union". Nachdem die Hadep bei der jüngsten Wahl siegte, begann ein großes Saubermachen wie unter dem Motto "Unsere Stadt soll schöner werden". Schmuddelecken entlang der Jahrhunderte alten Stadtmauer wurden vom Unrat befreit. Lokalpolitiker riefen zum gemeinsamen Straßenkehren auf, im Rathaus sind die Toiletten wieder benutzbar, und die Beschäftigten der Stadt müssen sich zum Dienstantritt seit kurzem in Anwesenheitslisten eintragen.

Doch die Metropole ist, wie alle anderen Südostprovinzen, von 15 Jahren Bürgerkrieg gezeichnet. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs die Bevölkerung um hundert Prozent auf gut eine Million Menschen an. Flüchtlinge aus zerstörten Dörfern leben in schnell hochgezogenen Hochhäusern, in Häuschen aus Stein und Beton oder in Baracken. Bei einer Arbeitslosenquote von offiziell 41 Prozent sind die Löhne im Landesvergleich durchschnittlich 50 Prozent niedriger. Vertriebenen bleiben nur Gelegenheitsjobs oder der Straßenhandel. Für 1100 Menschen steht hier ein Krankenbett zur Verfügung, pro 5000 Menschen ein Arzt. Im Landesdurchschnitt sollen es 48 Einwohner pro Krankenbett und ein Arzt pro 1300 Menschen sein. Durchschnittlich 41, oft mehr als 60 Kinder sitzen in einer Schul-Klasse. Mit dem Jahreshaushalt von 25 Millionen Mark sind soziale und Infrastrukturprojekte nicht zu stemmen. Viele Straßen bestehen nur aus Schlaglöchern. In anderen Bezirksstädten ist es ähnlich.

Als Folge der Landflucht ging die landwirtschaftliche Produktion teilweise um 50 Prozent zurück. Die Türkei wurde vom Fleischexporteur zum Importeur. Mangels Rohstoff setzten Leder und Wolle verarbeitende Betriebe Teile der Belegschaft auf die Straße. Würde endlich der Frieden erklärt, müssten auch Jobs für 70 000 "Dorfschützer" her, die der Staat für den Kampf gegen die aufständische PKK rekrutierte. Der Sold ernährt, so die Turkish Daily News, rund 300 000 Menschen. Für die Räumung von Minen verfüge die Türkei allein nicht über die technischen Möglichkeiten, heißt es.

Von einem Wiederaufbauprogramm ist zwar seit längerem die Rede; nur es passiert nichts. Ob sich die türkische Politik auf heimlichem Friedens -oder auf dem Kriegspfad bewegt, ist schwer auszumachen. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der militärischen Zusammenstöße mit der PKK um 90 Prozent zurückgegangen, heißt es offiziell. Die Guerilla hält sich weitgehend an die Friedensappelle ihres Übervaters Öcalan, der - zum Tode verurteilt - von der Gefängnisinsel Imrali aus Love-and-Peace- und Rückzugsbotschaften verbreiten darf.

Während mancher Westeuropäer noch zweifeln mag, ob eine Urlaubsreise in die Türkei politisch korrekt ist, erklärt der Vize-Stadtvorsteher: Touristen seien in Diyarbakir mit seiner historischen Vielfalt "natürlich willkommen". Neben internationaler und türkischer (Pop-) Musik dudeln auch kurdische Weisen in den Straßen, wenngleich lokalen Radiostationen Sendeverbot für Kurdisches droht. Den Nachwuchs auf kurdische Namen zu taufen, wurde vom höchsten türkischen Gericht gerade weiter untersagt.

Noch immer herrscht Ausnahmerecht in den Kurden-Provinzen. Seit Wochen sitzt nun schon einer der Vize-Bürgermeister Diyarbakirs wegen unbotmäßiger Äußerungen in Haft. Was geht, was darf nicht sein? Selbst Äußerungen über die Kriegsmüdigkeit und atmosphärische Verbesserungen fallen meist nur hinter vorgehaltener Hand. Zeichen der Hoffnung? "Die Straße nach Europa führt über Diyarbakir", sagte kürzlich Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz, Vorsitzender der Mutterlandspartei (ANAP) und möglicher Präsidentschaftskandidat. Andererseits erwogen Staatsanwälte allen Ernstes ein Verfahren gegen den amtierenden Außenminister, weil der kurdisches Privatfernsehen für möglich hält, ließen die Sache aber im Sand verlaufen.

"Kulturelle Rechte"? Er verdiene um die 200 Mark im Monat, sagt ein junger Mann, der an sieben Tagen die Woche, 15 Stunden täglich, in Diyarbakir einen Tante-Emma-Laden betreibt. Kurdisches Fernsehen schön und gut, wäre "in unserer Situation hier fast schon Luxus", sagt eine andere Stimme. Endlich ein Leben wie andere, Türken oder Deutsche, ein Ende der Verdächtigung "nur weil wir Kurden sind", davon ist die Rede.

Zumindest auf kurdischer Seite läuft ein Transformationsprozess. Die PKK verzichtet auf das Wort Kurdistan und damit auf jeglichen Autonomieanspruch. Türkische und kurdische Politiker und Intellektuelle linker und links-liberaler Provinienz basteln an einer ethno-übergreifenden "Demokratie-Bewegung". Sie soll auch die Hadep einschließen, gegen die ein Verbotsantrag läuft und die, allerdings auch nur im Südosten, als einzige über eine Massenbasis verfügt.