Wochenzeitung WoZ (CH), 16.3.2000

Der türkische Südosten: Nach den militärischen nun die sozialen Probleme

Hans Engels, Diyarbakir

«Parlez-vous français?» Die Frage kommt etwas überraschend - auch deshalb, weil der für die Akkreditierung zuständige Beamte sonst gar nichts wissen will. Nur eine kurze Erläuterung, für wen gearbeitet wird - und schon notiert Metin Akaslan, Leiter des Pressebüros, seinen Namen und seine Telefonnummer auf einem kleinen Zettel: «Falls Fragen sind oder Probleme auftauchen.» Dann noch ein guter Rat: «Wenn Sie die Stadt verlassen wollen, um in die Region zu fahren, kommen Sie noch einmal vorbei.» Ein Kollege der Nachrichtenagentur Reuters sei ohne amtliche Anmeldung losgezogen und habe deshalb auf einer Polizeistation festgesessen. Ansonsten: «Willkommen in Diyarbakir.» Willkommen in Diyarbakir? Willkommen in der heimlichen Hauptstadt des türkischen Kurdistan, wo die Behörden lange Zeit auf ausländische JournalistInnen gar nicht gut zu sprechen waren? Es herrscht eine entspannte Atmosphäre in der Stadt. Noch vor kurzem wäre kaum vorstellbar gewesen, dass der Jahrestag der Verschleppung von Abdullah Öcalan im Südosten der Türkei so unspektakulär verläuft. Vor einem Jahr wurde der Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) festgenommen, doch in Diyarbakir ist davon wenig zu merken. Nur eine Minderheit folgte einem Protestaufruf und hält die Läden geschlossen; auch Sicherheitskräfte sind kaum zu entdecken in dieser Stadt, in der von 1993 bis 1996 rund 850 Menschen von Killern der staatsnahen Hizbullah ermordet wurden. Die militärische Auseinandersetzung ist so gut wie beendet. Die Zahl der gewaltsamen Zusammenstösse sei in der Region, so die Statistik, um neunzig Prozent zurückgegangen - was auf kurdischer Seite als Erfolg der PKK und ihres Chefs verbucht wird, der einen Friedensappell nach dem anderen abschickt. Anfang Januar soll es zum bisher letzten grösseren Angriff gekommen sein, zum Abschuss eines Armeehubschraubers. Doch nach wie vor trifft man auf viele Kontrollen, immer noch sind manche Landstrassen gesperrt. Die kurdischen Südostprovinzen stehen weiterhin unter Ausnahmerecht. Und manchmal schlägt der Staat auch zu. «Die Strasse nach Europa führt über Diyarbakir», hatte der ehemalige Ministerpräsident Mesut Yilmaz, Vorsitzender der Mutterlandspartei (ANAP), vor kurzem gesagt. Doch es ist kein gerader Weg, den die staatstragenden türkischen Parteien gehen. Im vergangenen September hatte Staatspräsident Süleyman Demirel die Bürgermeister der kurdischen Städte zur Unterredung nach Ankara gebeten, kurz danach stattete er dem türkischen Südosten einen Besuch ab - doch die positiven Signale wurden durch drastische Massnahmen vor Ort konterkariert. Noch während kurdische Lokalpolitiker im Präsidentenpalast sassen, filzten Sicherheitskräfte Parteibüros der PKK-nahen kurdischen Partei Hadep, gegen die ein Verbotsantrag läuft. Einen vorläufigen Höhepunkt in der weiter andauernden Repression bildete die Festnahme des Bürgermeisters von Diyarbakir und zwei seiner Amtskollegen Mitte Februar. Die Stadtvorsteher wurden zehn Tage später - auch aufgrund des heftigen Protests seitens der Europäischen Union (EU) - bis zum Prozess vor einem Staatssicherheitsgericht auf freien Fuss gesetzt, sie durften aber wegen des hängigen Verfahrens nicht im Amt bleiben. Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Bürgermeistern Verbindungen zur PKK vor; in Wirklichkeit aber, so vermuten auch PKK-kritische Organisationen, stören Ankara die guten Auslandskontakte der Kommunalpolitiker. In den zurückliegenden Wochen hätten DiplomatInnen aus Schweden, der Schweiz und Luxemburg darauf bestanden, während ihrer offiziellen Besuche auch Hadep-Bürgermeister zu treffen. Wenige Tage nach der vorübergehenden Festnahme der Bürgermeister verurteilte das Staatssicherheitsgericht von Diyarbakir 18 Hadep-Mitglieder, darunter Parteichef Ahmet Duran Demir, zu Haftstrafen von drei Jahren und neun Monaten: Sie sollen im Februar vergangenen Jahres Proteste gegen die Festnahme von PKK-Chef Öcalan organisiert haben. Die Hadep-Politiker waren bei den Kommunalwahlen im vergangenen März teils mit Zweidrittelmehrheit ins Amt gewählt worden; die Partei regiert mittlerweile in drei Dutzend Städten und Gemeinden des Südostens.

Unsere Stadt soll schöner werden
Auch in Diyarbakir gewann Hadep bei der Wahl vor einem Jahr eine Mehrheit im Gemeinderat - und begann mit dem grossen Saubermachen. Heruntergekommene Ecken entlang der jahrhundertealten Stadtmauer (ein Wahrzeichen der Stadt) wurden vom Unrat vieler Jahre befreit; LokalpolitikerInnen riefen die Bevölkerung zum gemeinsamen Strassenkehren auf; ein seit langem vernachlässigtes Wohnquartier bekam ein Grünviertel verpasst; die Toiletten im Rathaus sind wieder benutzbar; und die Beschäftigten der Stadtverwaltung müssen sich seit kurzem bei Dienstantritt in Anwesenheitslisten eintragen (nachdem zuvor zweihundert Angestellte wegen chronischer Abwesenheit entlassen worden waren).

«Diyarbakir», sagt Bülent Ipek, einer der Vizebürgermeister, «wird die östlichste Metropole der Europäischen Union werden.» Hadep-Ratsmitglied Ipek ist in Diyarbakir für das ehrgeizigste Modernisierungsprojekt zuständig, das in der Stadt je angekündigt wurde. Für rund 100 Millionen Franken soll das Trinkwasser- und Abwassersystem völlig erneuert, in manchen Quartieren mit dem Bau einer Kläranlage überhaupt zum ersten Mal installiert werden. Finanziert wird das Projekt zur Hälfte mit einem Langzeitkredit der Europäischen Investitionsbank (EIB) sowie einem Zuschuss der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und einem Programm der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Das Projekt mit dem Namen «Capacity Building» soll die Stadtwerke von Diyarbakir befähigen, auch Grossinvestitionen technisch und administrativ zu bewältigen. «Fünfzig Jahre lang sind die Trink- und Abwasserprobleme nicht gelöst worden», sagt Stadtmanager Ipek, in dessen Büro wie in allen türkischen Amtsstuben das Bildnis des Staatsgründers Mustafa Kemal («Atatürk») hängt. Wenn das Projekt - wie geplant - in fünf Jahren abgeschlossen wird, «trägt es dazu bei, die Spannungen in der Region abzubauen». Ausserdem, so der Hadep-Lokalpolitiker, wünsche er sich möglichst viel Fremdenverkehr: TouristInnen seien in Diyarbakir mit seinen historischen Reichtümern aus mehreren tausend Jahren Stadtgeschichte «natürlich willkommen». Diese TouristInnen treffen auf eine Stadt, die sie sich so womöglich nicht vorgestellt haben. Da gibt es zum Beispiel einen Neubau aus Marmor und Glas, den die türkischen Hotelkette Dedeman errichtet hat. Gleich daneben wurde vor einem Vierteljahr das Einkaufszentrum «Diyarland Galeria» eingeweiht - ein Konsumtempel, in dem sich die Oberschicht der Stadt gern trifft und sehen lässt und der den Ärmeren die Hoffnung vermittelt, dass der ökonomische Aufschwung auch sie ergreifen könnte. Das «Diyarland» bietet auf vier Etagen Erlebnisgastronomie, Boutiquen à la Ted Lapidus Paris oder Valentino Business, eine Fun-Welt für Kids und vier Kinos, in denen die neuesten Produktionen der Türkei und Hollywoodsvorgeführt werden, Popcorn-Versorgung inklusive.
Abgesehen von den häufigen Stromausfällen erinnert hier nichts mehr an die alltägliche Not in den Randbezirken. Die sind im Laufe des Krieges deutlich angewachsen: Die Auseinandersetzungen zwischen PKK und dem türkischen Staat haben die Bevölkerung von Diyarbakir innerhalb eines Jahrzehnts auf eine Million Menschen verdoppelt. Rund 3000 Dörfer hat die Armee geräumt und teilweise geschleift; viele BewohnerInnen flüchteten schon vorher, weil sie den doppelten Druck von türkischem Militär und PKK nicht mehr aushielten und um ihr Leben fürchteten. Die Zahl der kurdischen Binnenflüchtlinge wird auf drei Millionen geschätzt. Viele flohen in andere Grossstädte, nach Bursa, Mersin, Adana, Istanbul, wo sie ohne jede Hoffnung in Slumsiedlungen zu überleben versuchen; andere sind am Stadtrand von Diyarbakir in schnell hochgezogenen Hochhausbauten oder Baracken untergekommen - stets bereit, jeden Gelegenheitsjob anzunehmen. Derweil üben ihre Kinder in den überfüllten Schulen eine besondere Art von Rotation: Die hinteren Reihen rücken im Verlauf der Schulstunden nach vorn, damit sich die hinter ihnen Stehenden auch mal setzen dürfen; dafür steht dann, wer morgens auf den vorderen Bänken sass. Investitionen im Bildungswesen sind ausgeschlossen, denn die Stadtverwaltung ist pleite. Mit einem Jahresbudget in Höhe von rund zwanzig Millionen Franken kann sich die Kommune soziale Massnahmen schlichtweg nicht leisten.

Minen statt Schafe
In den Bezirksstädten sieht es nicht anders aus. Die Bevölkerung von Van, einer der östlichsten Städte, ist innerhalb der letzten Jahre von 250 000 auf 450 000 Personen angewachsen; die Armee hat im Umkreis von Van mindestens hundert Dörfer zwangsevakuiert. Die Folge dieser Massnahme (in den vergangenen acht Jahren ging die landwirtschaftliche Produktion nach Angaben der örtlichen Landwirtschaftskammer um die Hälfte zurück) lastet auf der lokalen Ökonomie und hat landesweite Folgen. Da auch in anderen Südostprovinzen die Agrarproduktion abnahm, muss die ehemals Fleisch exportierende Türkei nunmehr Fleisch einführen. Nicht nur Bauern und Schafhirten sitzen seither arbeitslos in den Slums der Städte, auch die Leder und Wolle verarbeitenden Betriebe haben einen Grossteil ihrer Beschäftigten weggeschickt. Eine Wiederbelebung der regionalen Ökonomie ist daher nicht ohne Probleme. Dazu kommt noch eine weitere Schwierigkeit: Landminen. Die PKK habe Militärrouten vermint, das Militär die Aufmarschpfade der PKK, berichtete jüngst die Zeitung «Turkish Daily News»; «andere mit unbekannter Identität und Absicht» hätten ebenfalls Minen gelegt. Überall seien sie vergraben, und die Türkei habe nicht die technischen Mittel, die Sprengkörper aufzuspüren und unschädlich zu machen. Voraussetzung für eine Entwicklung des Südostens ist eine klare Politik, doch Ankara eiert. So hält der türkische Aussenminister die Zulassung eines privaten kurdischen Fernsehkanals für möglich, andererseits verweigerten die Behörden dem EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit die Erlaubnis für einen Besuch der inhaftierten kurdischen Politikerin und früheren Abgeordneten Leyla Zana. Viele KurdInnen misstrauen der türkischen Politik. «Versprechungen macht die Türkei seit 1923», sagt beispielsweise Sertac Bucak vom (PKK-kritischen) Internationalen Verein für Menschenrechte in Kurdistan. «Wir Kurden haben gelernt, erst die Taten abzuwarten.» Auf kurdischer Seite ist einiges in Bewegung geraten. Die PKK hat ihr gesamtes Programm umgekrempelt (siehe Bericht aus WoZ Nr. 9/00). Zwei Dutzend türkische und kurdische Politiker und Intellektuelle linker und linksliberaler Provinienz wollen eine volksgruppenübergreifende «Demokratie-Bewegung» initiieren, welche die diversen Splitterparteien einen und auch Hadep einbeziehen soll, die als einzige Partei über eine Massenbasis verfügt. Hauptanliegen: «eine demokratische Lösung für das kurdische Problem zu finden», so Initiator Feridun Yazar. Hadep wäre als Teil einer breiteren Bewegung den seit je ungerechtfertigten Vorwurf los, nur separatistische Ziele zu verfolgen. Die Wandlung der PKK betrachten die seit langem kritischen PKK-Kreise allerdings mit Vorbehalt. Niemand wisse, welche Politik die so schnell gewendete PKK morgen verfolge. Die Ironie der Geschichte: Von einem möglicherweise drohenden Ausverkauf kurdischer Interessen reden nun ausgerechnet jene VerfechterInnen einer moderaten Politik, denen die PKK vor nicht allzu langer Zeit noch «Verrat» vorgeworfen hatte.