Frankfurter Rundschau, 17.3.2000

Erst raus, dann rein?

Über die Zu- und Abwanderung in Deutschland, die fehlende Kultur der Gastfreundschaft und die Ausgrenzung der Fremden im Osten

Von Rolf Geffken

Die deutsche Ausländerpolitik ist vor allem ein Spiel mit Zahlen - egal ob in der Asylpolitik oder der aktuellen Debatte um die Green Card für Computer-Fachleute aus dem Ausland. Langfristige Einwanderungskonzepte sind Fehlanzeige. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht und Autor Rolf Geffken weist auf die unterschiedlichen Maßstäbe in der Ausländerpolitik hin. Wir dokumentieren seinen Beitrag, der für eine migrationspolitische Tagung des DGB-Bundesvorstandes entstanden ist, in einer gekürzten Fassung.

1. Die UN erinnert an Demographie Die Meldung erschien Anfang des Jahres nirgends auf Seite 1. Ganz so, als fürchteten nicht nur Politiker, sondern auch Journalisten die Brisanz der Meldung: Die Industrieländer müssen ihre Politik der Nicht-Einwanderung beenden, um die Zahl der Erwerbstätigen langfristig auf dem Niveau von 1995 zu halten. Allein Deutschland werde binnen kurzem pro Jahr(!) 500 000 Zuwanderer brauchen.

So jedenfalls das Ergebnis einer Studie der Vereinten Nationen mit dem Titel "Migration als Ersatz: Eine Lösung für zurückgehende und alternde Gesellschaften?" Einige Politiker wollten zunächst keine Stellungnahmen abgeben. Die vollständige Veröffentlichung des Berichts sei abzuwarten. Doch zur Einschätzung des Problems ist Abwarten nicht notwendig. Im Gegenteil:

Die Studie enthält vielleicht "brisante" Fakten, aber neu sind diese Fakten keineswegs! Brisant ist vor allem der Umgang hiesiger Politiker mit der Wahrheit in Sachen Ausländerpolitik. Jahrzehntelang (und noch heute) galt der Minimalkonsens "Integration der hier lebenden Ausländer - wenn möglich Einbürgerung - aber Begrenzung oder Stopp einer weiteren Zuwanderung". Auch der amtierende Bundesinnenminister hat diesen Konsens kürzlich noch einmal mit der Theorie vom angeblich "vollen Boot" unterstrichen. Dabei hätte Schily wissen müssen, dass der Saldo zwischen Abwanderung und Zuwanderung seit einiger Zeit negativ ist, d. h. eine "Nettozuwanderung" schon jetzt nicht mehr existiert. Aus vordergründigen wahltaktischen und populistischen Erwägungen reiten Politiker auf Zuwanderungszahlen, verschweigen dem Publikum aber die schlichte Tatsache einer seit vielen Jahren anhaltenden Abwanderung (einschließlich der etwa 100 000 deutschen Auswanderer pro Jahr). Das, was Bürger zu sehen meinen - einen angeblichen Zustrom von Einwanderern - wird als "berechtigtes Problem" anerkannt und zum Gegenstand von Lösungsvorschlägen gemacht. Aber das, was kaum jemand sieht, nämlich die schlichte Abwanderung (Deutscher wie Nicht-Deutscher) wird unterschlagen.

Es ist die Blindheit der politisch Verantwortlichen? Kaum. Dieselben Politiker, die dem Publikum bittere Wahrheiten in der Haushaltspolitik oder "demographische Faktoren" in der Rentenreform zumuten, fürchten die Antwort auf die Frage: Wer soll die Arbeit erledigen, wenn die jetzige junge Generation im Rentenalter den beschworenen demographischen Faktoren ausgesetzt ist? Denn dass niedrigere Geburtenraten und längere Lebenserwartung auch in Deutschland eine dramatische Veränderung in der Struktur der Bevölkerung zur Folge haben, ist eine Binsenwahrheit. Umso schlimmer, wenn das "Wanderungssaldo" bereits jetzt (ohne demographischen Faktor) negativ ist.

2. Es kamen Menschen

Gerüchteweise hört man nun so manches. Wenn es soweit sei, drehe man den Hahn eben wieder auf: Anwerbung wie einst in den 60er Jahren. Dann kommen die Osteuropäer. Dort gäbe es ja genug Arbeitsuchende.

Bei der Frage, ob das funktioniert, sollte man allerdings erst einmal prüfen, ob aus dem Hahn denn wirklich ausländische Arbeitskräfte träufeln. Einerseits meint Volkes Stimme, Ausländer "strömten" längst zu uns. Andererseits ist der Saldo in Wirklichkeit negativ. Wieso eigentlich? Lässt man den auch zurückgehenden "Flüchtlingsstrom", also die Asylbewerber, ebenso außer Betracht wie die Zuwanderer aufgrund von Familienzusammenführung oder Heirat, so bleibt eine ganz marginale Zahl von "Ausnahme"-Arbeitskräften. (Trotz der Baustellen in Berlin und trotz der Werksvertragarbeitnehmer, die ohnehin nicht als Zuwanderer gelten). Also: die Zuwanderungssperre funktioniert. Sie ist real. Realer als manche Zeitgenossen ahnen mögen. Kann man nun diesen Stopp einfach aufheben und erreicht man dadurch eine angemessene demographische Struktur?

Allein die Frage stellen, heißt: Beschreiben, was Ausländerpolitik hierzulande von Anfang an war, nämlich ein Spiel mit Zahlen, weniger eine Diskussion mit und um Menschen. Von der alten Politik hieß es gut 30 Jahre nach der ersten Anwerbeaktion der Bundesanstalt für Arbeit: "Es wurden Arbeitskräfte gerufen, es kamen - Menschen."

1960 glaubte niemand, eines Tages werde das Thema "Familienzusammenführung" auf die Tagesordnung kommen. Die Arbeitsmigranten selbst dachten nicht daran. In Taiwan, wo es seit gut 20 Jahren angeworbene ausländische Arbeitskräfte gibt, stellte man jetzt plötzlich fest, dass das Rotationsmodell mit zwei Jahren Arbeitserlaubnis daran scheitert, dass "Arbeitskräfte" ihre Bindungen zur Heimat lockern, Bindungen am Ort des Aufenthaltes eingehen und sogar die Illegalität einer späteren Rückkehr vorgezogen wird. Deutsche Erfahrungen könnten bei dem Umgang mit diesem Phänomen helfen. Doch wir haben längst verdrängt, dass bei uns dem Nachzug recht bald und überwiegend die Rückkehr folgte.

3. Erfahrungen der Rückkehrer

Eine wenig beachtete, aber sehr nachhaltige Rückkehr. Sie betraf Hunderttausende hier arbeitender und lebender Menschen. Eine Rückkehr, die keineswegs immer aus freien Stücken erfolgte, aber von vielen Wunden begleitet war. Insbesondere Tausende von Spaniern und Portugiesen, aber auch Türken verließen in der Zeit von 1980 bis 1990 mit ihren Familien wieder Deutschland. Der Verfasser unterhielt in seinem Büro von 1982 bis 1988 noch eine portugiesische Sprechstunde, danach gab es keinen Bedarf mehr: Mit jeder Entlassungswelle großer Unternehmen, mit jedem neuen Sozialplan, sei es bei HDW in Hamburg oder bei der AG Weser in Bremen oder bei vielen Kohlezechen im Ruhrgebiet, war die Rückkehr tausender Arbeitnehmer verbunden.(...

Diese Erlebnisse wurden zur "Kollektiverfahrung" einer ganzen Generation sog. Gastarbeiter. Sie vermittelten diese Erfahrungen an ihre Kinder in Deutschland, soweit diese nicht zurückkehrten. Vor allem aber vermittelten sie ihre Erfahrungen dem eigenen sozialen Umfeld in ihrer Heimat. Keine Frage: Gerne erkundigt sich die deutsche Öffentlichkeit nach dem Bild der Deutschen in Frankreich, England, den USA usw. Ungerne fragt sie danach, was aus dem Bild der Deutschen in der Türkei wurde. Ungeachtet aller Brüche in der deutschen Geschichte blieb es in der Türkei ausschließlich positiv. Vom Osmanischen Reich über Atatürk bis weit in die 70er Jahre. Doch die Erfahrungen der Rückkehrer zeichneten ein anderes Bild. Ein Bild der Ernüchterung, der Enttäuschung und oft der Verbitterung. Kein Wunder, dass die erlebte Enttäuschung in Deutschland und anderen Staaten Westeuropas auch zu einer inneren Abkehr vom Kemalismus, der Staatsideologie Atatürks, begleitet war. Die Migration vieler Türken hat den religiösen Fundamentalismus nicht etwa zurückgedrängt, sondern entschieden gefördert. Religiöse und kulturelle Gettoisierung wurde nicht - wie von vielen Deutschen so wahrgenommen - aus der Heimat importiert, sondern als innere Imigration gegenüber einer sich verweigernden offenen Gesellschaft praktiziert.

4. Anwerben wie bisher?

Kann man nun trotz solcher Erfahrungen und Entwicklungen wieder Hähne aufdrehen und Menschen nach Deutschland strömen lassen? Wollen jene, die in irgendeiner Weise die Kollektiverfahrung der nicht erwünschten Migration gemacht haben, überhaupt noch kommen? Wollen es deren Kinder? Und wenn ja: Sind dies jene Menschen, die hier gut zurechtkämen? Wie wäre insgesamt deren Motivation zur Arbeit? Wäre da Aufbruchstimmung unter den Ankommenden wie in den 60er Jahren? Wären da Verzicht und Leistungswille vorhanden oder eher die Verbreitung von Begriffen wie Entlassung, Arbeitslosengeld oder gar Abschiebung? Zugespitzt: Hätte Vertrauen oder Misstrauen die Oberhand?

Keine Frage. Die Aufbruchstimmung der 60er Jahre wird nie wieder erreicht werden. Misstrauen dürfte zunächst die Oberhand gewinnen. Nun könnte man einwenden: Was soll's? Ein Hilfsarbeiter Ali braucht nicht zu vertrauen. Arbeit gegen Geld. Ende. Doch: Kann man in einer Zeit der Globalisierung der Arbeit, des "Totaly Quality Management", der Vereinbarung von Arbeitszielen am einzelnen Arbeitsplatz usw. überhaupt noch Grundeinstellungen von Arbeitnehmern außer Acht lassen? Bedeutet die zunehmende Abhängigkeit einer älter werdenden überwiegend deutschen Generation von nichtdeutschen Arbeitnehmern nicht auch die Notwendigkeit, diese produktiv tätigen Menschen in ihrer ganzen Persönlichkeit anzuerkennen und ihre Entfaltung zu fördern?

Nun könnten die potenziellen Anwerber einwenden: Gut. Die Türken haben die Nase voll. Also lasst uns in Osteuropa anwerben. Es stehen ja genug bereit.

Ein solcher Vorschlag übersieht zweierlei: Kollektive Erfahrungen mit Migration haben nicht nur negative Seiten. Im Gegenteil: Spätere Generationen lernen die Möglichkeiten und Risiken der Wanderung besser einzuschätzen und abzuwägen. Trotz aller Verbitterung und Enttäuschung bleibt der Erkenntniswert einer realistischen Sichtweise der Gesellschaft am Zielort. Osteuropäische Arbeitnehmer haben diese Sichtweise deutscher Verhältnisse nicht. Ähnlich den Idealvorstellungen türkischer Migranten in den 60er Jahren ist Deutschland für sie das "gelobte Land", von dem man alles erhofft und das eine kritische Sichtweise überhaupt nicht zulässt.

Ein ganz anderes Faktum werden manche nicht gerne hören: Der Wertehorizont der "Gastarbeiter" erster Generation war weitaus präziser entwickelt als derjenige vieler Migranten aus Osteuropa. Die türkischen, portugiesischen, spanischen oder jugoslawischen Migranten kamen nicht aus einer dem ständigen Verfall ausgesetzten "Transformationsgesellschaft", sondern aus kulturell und religiös relativ gefestigten Strukturen. Nur deshalb konnten viele auch für sich jahrzehntelang die Perspektive der "freiwilligen Rückkehr" bewahren. Ganz anders die potenziellen Migranten Russlands oder der Ukraine. Allein die Migration selbst würde Mittel verlangen, die vermutlich auf legale Weise im Heimatland schwer zu beschaffen wären. Der völlige Verfall der gesellschaftlichen und familiären Strukturen, die Dominanz mafioser und krimineller Aktivitäten würde sich der Migration schnell als eine wichtige Devisenquelle bemächtigen. Mit all den Folgen für den inneren Frieden auch in Deutschland, die sich daraus ergeben würden.

Offensichtlich ist also die Vorstellung, die angeblich integrationsfähigen Osteuropäer könnten als Kompensation für nicht mehr erwünschte oder nicht mehr angeworbene türkische Arbeitnehmer fungieren, viel zu kurz gegriffen. Ein Land, das wenig Erfahrungen mit Migration - auch wenig kulturelle Erfahrungen - gemacht hat, tut gut daran, sein Potenzial in dieser Richtung nicht zu verschleißen. Genauso wenig wie man tunlichst im privaten Leben Partner auf Partner "tauschen" sollte, um damit zwischenmenschliche Beziehungen "verbessern" zu können, wäre es wichtig, mit den bekannten Partnern neu und vielleicht auf einer anderen ehrlicheren und effektiveren Ebene wieder zusammenzukommen.

5. Mauern erkennen

Zu einem solchen Neuanfang gehört, dass vor allem die deutsche Bevölkerung die Mauern erkennt, die bisher (und noch heute) unser Land umgeben. Ich meine damit nicht jene kulturellen oder mentalen Mauern, die jeder im persönlichen Umgang mit Nichtdeutschen gespürt hat. Ich meine auch nicht jene, die der Deutsche spürt, wenn er Grenzen überwinden möchte und ihm seine heimatliche Umwelt jene Überschreitung vorhält.

Nein: Ich spreche von den realen Grenzen dieses Landes. Diese Grenzen sind entgegen landläufiger Meinung nicht durchlässiger, sondern dichter geworden. Die Außengrenzen der sog. Schengen-Staaten sind für Deutsche wenig sichtbar. Aber sie existieren realer und wirksamer als jemals zuvor: An der Grenze zu Polen ebenso wie bei der Einreise am Frankfurter Flughafen und - noch viel bedeutsamer - bei den deutschen Auslandsvertretungen. Für jeden "Drittstaatler" (Nicht-EU-Bürger) gilt: Ohne Visum keine Einreise. Und sei es, dieser Drittstaatler studiere in der Schweiz, in den USA oder in Australien. Die Bürger dieser Länder können zwar erleichtert einreisen, doch Menschen mit der Staatsangehörigkeit Russlands, Chinas, Indiens, der Türkei, Brasiliens oder Indonesiens können es nicht, wo immer sie sich aufhalten. Die deutsche Auslandsvertretung prüft deren Visaantrag. Einen Anspruch auf Einreise gibt es nicht. Vor allem in den Staaten der Dritten Welt, aber auch in den aufstrebenden Tigerstaaten Asiens oder in Iran und in der Türkei sind deutsche Botschafts- und Konsulatsangehörige täglich mit der meist negativen Bescheidung von Visaanträgen befasst. Darunter sind tausende Antragsteller, die gar keinen Daueraufenthalt anstreben. Nur einige Beispiele:

- Ein türkischer Fischer, bei dem sich ein deutsches Ehepaar für dessen Gastfreundschaft mit der Einladung zu einem Gegenbesuch bedanken wollte. Antrag abgelehnt.

- Ein indischer Student, der mit der Unterstützung von Freunden in den Ferien Deutschland kennen lernen wollte. Antrag abgelehnt.

- Eine philippinische Hotelfachfrau, die von deutschen Gästen eingeladen wurde. Antrag abgelehnt.

- Drei minderjährige schutzbedürftige Kinder aus Manila, die zu ihrem in Deutschland lebenden Vater ziehen wollten. Antrag abgelehnt.

- Eine chinesische Großmutter, die, von einem Chinesen mit deutschem Pass eingeladen, ihren Lebensabend hier verbringen sollte. Antrag abgelehnt.(...

Das deutsche Ausländergesetz kennt keine Gastgeber. Weder deutsche noch nichtdeutsche. Es kennt nur "Gäste". Diese und nicht die Gastgeber können ggf. sich gegen Entscheidungen der Auslandsvertretungen wehren. Man stelle sich vor: Der türkische Fischer, der indische Student oder die philippinische Angestellte erheben Klage beim Verwaltungsgericht Köln gegen die Bundesrepublik Deutschland. Vorstellbar für deutsche Juristen. Peinlich für die Betroffenen. Unangenehm und ärgerlich für die rechtlosen Gastgeber.

Und weiter: Grund für die Ablehnung ist bei den Antragstellern aus der Dritten Welt fast immer die "nicht glaubhaft gemachte Rückkehrbereitschaft". Also: Die deutschen Grenzwächter müssen sicher sein, dass die Gäste nach kurzer Zeit wieder gehen und wer bietet am ehesten Gewähr dafür, nicht lange zu bleiben? Natürlich jene, denen es im Heimatland gut geht, die ein volles Konto haben, die das Flugticket selbst kaufen können, kurz: Jene, die zur "High Society" ihres Heimatlandes gehören. Alle anderen - Arbeitnehmer und Angehörige der Mittelschichten - stehen naturgemäß im Verdacht "mittellos" zu sein, vor allem dann, wenn sie noch Gäste eines zahlenden deutschen Gastgebers sind. Klassenjustiz pur. Und: Gastfeindschaft par excellence.

Nun könnte man einwenden, dass ja Gäste keine Zuwanderer seien, und dass für sie eben andere Kriterien zu gelten hätten. Mag sein. Aber wer wird zum Migranten, wer schon als Gast so behandelt wird? Jedenfalls kaum jene, deren Wertehorizont unseren eigenen Grundwerten nahekommen würde. Es gibt Tausende von Menschen in Asien, Afrika und Südamerika, die Erfahrungen mit dieser Art der Willkür des deutschen Ausländergesetzes gemacht haben. Unter den jungen intellektuellen Eliten Asiens (von denen nicht alle Geld, aber viele Verstand haben) kursiert das geflügelte Wort: "The German authorities are very strict" und dies ist noch eine relativ harmlose Umschreibung. Selbst wenn man die humanitäre Seite der Angelegenheit außer Acht ließe (und Ausländerpolitik hat ja bekanntlich wenig mit Humanität zu tun), so bliebe die Frage erlaubt: Nutzt eine solche Politik eigentlich unserem eigenen Land? Mehr noch: Wer denkt an die Rechte der Gastgeber, die hier auf merkwürdige Weise ignoriert werden? Gehört zur freien Entfaltung der Persönlichkeit nach dem Grundgesetz nicht auch das Recht auf Einladung eines ausländischen Staatsangehörigen, also die Rolle des Gastgebers? Ist nicht in allen Kulturen dieser Welt die Rolle des Gastgebers gegenüber derjenigen des Gastes viel stärker und ausgeprägter?(...)

Es glaube niemand, diese - auch kollektiven - "Grenzerfahrungen" hätten keine Spuren bei den Betroffenen hinterlassen. Sie sind dort viel mehr präsent als hier, wo außer den betroffenen Deutschen kaum jemand die Realität deutscher Außengrenzen wahrzunehmen bereit ist.

Ich behaupte: Selbst wenn man diese Mauern weniger willkürlich, etwas menschlicher und vielleicht nur: berechenbarer gestaltete, so würde sich zunächst nicht viel ändern: Der Hahn bleibt ein Hahn und ist auch als Hahn wahrgenommen worden. Er ist so eng, dass er selbst vielen Deutschen schon zum Verhängnis wurde.

Doch selbst wenn er anders gehandhabt werden sollte: Wie wollen jene Politiker, die noch heute von der "Belastung durch Zuwanderer" reden, dem uninformierten Bürger eine solche Kehrwende vermitteln? Ist die Politik nicht längst zum Sklaven jener Geister geworden, die sie aus wahltaktischen Gründen immer wieder riefen? Hier ist eine Umkehr noch heute dringend angezeigt. Aber ich habe Zweifel, ob diese Umkehr in allen Teilen Deutschlands gleichermaßen geleistet werden kann. Einen "öffentlichen Diskurs" zum Thema Ausländerpolitik gab es noch nie. Die Substanzlosigkeit der privaten und öffentlichen Statements ist Legende. Doch historisch unerreicht ist das beschämende exotische Faktum, das kaum 10 Jahre nach der Wiedervereinigung die Ausländerfeindlichkeit dort am größten ist, wo es keine Ausländer gibt:

6. Ostdeutschland: "Probleme mit Ausländern"

Wenn in Rostock, Dresden oder Erfurt noch nicht einmal 2 Prozent der Gesamtbevölkerung Ausländer sind, aber dennoch 98 Prozent ein "Problem" mit dieser mikroskopischen Minorität haben, dann sträubt sich dieses Phänomen gegen jede Verharmlosung. Verharmlosen und Verschweigen ist aber die Methode der offiziellen Politik. Ist es doch schließlich die eigene Klientel, der hier die Leviten gelesen werden müssten und nicht die irgendeines Gegners . . . Die der PDS ebenso wie der CDU und der SPD. Wer Wahlkämpfer an Haustüren in Ostdeutschland miterlebt hat, weiß, dass die Bedrohung ausgerechnet ostdeutscher Arbeitsplätze durch Ausländer zu den großen Sorgen des Wahlvolkes gehört. Manche Politiker reagieren gar nicht. Manche haben Verständnis. Manche tun so, als sei das Problem eben in Ost und West dasselbe.

Letztere Sichtweise bevorzugt die auf Westerweiterung ausgerichtete PDS, die kein Interesse daran hat, die Ursachen dieses international beschämenden Faktums in der Realität der DDR selbst zu suchen: Das Grenzregime der DDR bewirkte nicht nur die Kasernierung von Menschen, sondern auch die Kasernierung des Geistes, die Konservierung kultureller Standards und deren Abschottung von Welt schlechthin. Alle Bekenntnisse der DDR zum Internationalismus waren hohle Phrasen eines auf extreme Provinzialität gerichteten Zwangskonsenses. Selbst der Republikflüchtling galt keineswegs der großen Mehrheit der Bevölkerung als positiver Rebell. Charakterisierungen wie "Drückeberger", "Faulpelz" oder gar "Verräter" waren durchaus in manch privatem Kreis und auch an Stammtischen anzutreffen. Selbst wenn dieses heute kaum noch jemand wahrhaben möchte.

Umgekehrt reichte die Ideologisierung der SED noch nicht einmal so weit, um ihre eigene Klientel "klassenmäßig" einzuschwören. Nicht zufällig wurde das Grenzregime nicht mit einem intellektuell besonders anspruchsvollen Marxismus-Leninismus begründet, sondern stets mit der Formel von der "Verteidigung der sozialistischen Heimat". Da das Verhältnis zur deutschen Nation der SED seit dem Mauerbau abhanden gekommen war, rückte an die Stelle des in anderen sozialistischen Staaten plumpen Nationalismus (Rumänien, Bulgarien) ein noch plumperer Provinzialismus: "Heimat" als letzte begriffliche Rettung vor dem Chaos eines "prinzipienlosen" Abdriftens in das Unbekannte des Westens, seine Uferlosigkeit, seine kulturelle Unberechenbarkeit.(...)

So paradox es klingt: Das Grenzregime der DDR und der Straftatbestand der Republikflucht hatten stärkere (wenn auch niveaulose) philosophische Dimensionen als alle Indoktrinationen in Sachen Marxismus-Leninismus. Während der Zwangsüberbau ideologischer Formeln nach der Wende aus den meisten Köpfen schnell entwich und selbst vielen Akteuren nur als Heuchelei denn als eigene Überzeugung diente, wurde die eigene Ein-Grenzung zur Aus-Grenzung des Fremden. Wirksamer, effektiver, nachhaltiger als alle anderen Lasten der DDR-Vergangenheit. Nur Ignoranten können behaupten, im Westen gäbe es die gleichen Muster von Vorurteilen.

Die Migration von ausländischen Arbeitskräften hat im Westen Deutschlands inzwischen eine mehr als 40 Jahre währende Geschichte. Trotz aller Anfeindungen und Ausgrenzungen haben sich die meist nichtdeutschen Inländer im Westen unseres Landes längst einen Platz erkämpft (sofern sie im Lande bleiben konnten). Sie sind dort keine Exoten mehr, sondern Teil einer sich immer mehr differenzierenden Gesellschaft. Deutschland ist noch weit davon entfernt, diese Menschen auch als nationale und kulturelle Minderheiten zu integrieren. Während die alte Regierung jede Art von Niederlassungsrecht jenseits der Einbürgerung ablehnte und eine "Perpetuierung" von nationalen Minderheiten fürchtete, hat die neue Regierung nur ein vereinfachtes Einbürgerungsrecht entdeckt und propagiert damit weiterhin die Perspektive "Deutsch werden!". Eine nicht gerade Toleranz fördernde Losung.

Und dennoch: Schon zeichnet sich ab, dass etwa junge "Türken" (Nichtdeutsche türkischer Herkunft) der dritten und vierten Generation selbst bei deutschem Pass sich zu einer eigenen Identität bekennen, ja diese Identität deutsch sein und türkisch bleiben auf ganz eigene Weise verbindet und damit selbst zu einer Brücke zwischen den Kulturen wird oder werden kann.

Ganz anders die Vietnamesen im Osten Deutschlands. Anfangs doppelt kaserniert und vom Heimatland wie vom Gaststaat gleichermaßen kontrolliert und entrechtet, spielte sich ihr Leben außerhalb der DDR-Gesellschaft ab. Das war nicht nur ein politisches, sondern auch ein philosophisches Faktum: Man räsonnierte über die Arbeitsmigration im Westen (s. oben!) aber für die Migranten im eigenen Land gab es noch nicht einmal einen Begriff!

Was aber bedeutet es anderes, als die Existenz einer Sache zu verneinen, wenn es von ihr keinen Begriff gibt? Diese Begrifflosigkeit, die im DDR-Alltag eine offizielle Sprachlosigkeit und damit eine inoffizielle Vulgarisierung ("Fitschis") zur Folge hatte, war konsequent: Sie passte weder in das Klischee der "sozialistischen Heimat" noch das des "Internationalismus", denn Arbeitsmigration, Wanderung schlechthin war und ist nicht nur mit den Fabeln vom realen Sozialismus, sondern vor allem mit der Stabilität und Akzeptanz von Staatsgrenzen schwer vereinbar: Selbst die relativ geringe Mobilität vietnamesischer Arbeitskräfte musste im ideologischen Gerüst des DDR-Alltags ignoriert werden, um damit die vermeintliche Stabilität des Grenzregimes - und sei es nur in Gestalt einer relativen Akzeptanz - nicht zu gefährden.

Umso schwerwiegender war die Fortsetzung dieser Begrifflosigkeit durch die Wiedervereinigung, die hier nicht etwa mit einer Übernahme des westdeutschen Ausländergesetzes, sondern mit der "Rücknahme" der angeblichen "Vertragsarbeitnehmer" durch die vietnamesische Regierung verbunden war.

Lediglich die Tatsache, dass Vietnam nicht alle der dafür vorgesehenen Migranten zurücknahm, war es zu verdanken, dass immerhin einige davon nun zu einem "diskutierbaren" Problem wurden: Sie sollten ja gehen. Nach der DDR-Begrifflosigkeit ohnehin. Irgendwie, irgendwann, unmerklich. Nach BRD-Kriterien konkret und rasch. Also: Warum blieben sie dann?

Offensichtlich war im Begeisterungstaumel um den Fall der Mauer und den Gewinn der Reisefreiheit für DDR-Bürger wenigen Deutschen aufgefallen, dass die Beschränktheit des DDR-Regimes in der Ausgrenzung von Fremden ganz konkret weiterlebte und sich sogar "im Recht" glaubte. Nicht wenige Ostdeutsche vermeinten, in der Eins-Werdung der Deutschen Nation auch das Recht auf Ausgrenzung aller Nicht-Deutschen sehen zu dürfen. Doch tatsächlich war es nur das Fortwirken der alten Muster, die sich auf 40 Jahre Isolation und Ausgrenzung gründeten. (...)

Und dennoch: Es bleibt das Faktum der Marginalität alles Fremden in Ostdeutschland. Selbst 10 Jahre nach der Wiedervereinigung. Nicht die Vereinigungskriminalität, nicht die Verführer und Täuscher aus dem deutschen Westen, sondern Vietnamesen, oder ein paar kurdische Asylbewerber oder Afrikaner aus Mozambique sind "schuld" am vermeintlichen Elend ...

Hier besteht ein gigantischer Nachholbedarf in Sachen Kultur und in Sachen Wahrheit. Nur wer Deutschland nicht als Ganzes begreift, mag diesen Nachholbedarf ignorieren. Wer aber wieder eine realistische Sicht der Ausländerpolitik will, muss sofort mit der Aufklärung anfangen, flächendeckend von Ost nach West.(...)

Dies ist kein Plädoyer für angeblich "offene Grenzen". Aber ebenso wenig kann sich eine entwickelte Industrienation wie Deutschland in einer globalisierten Welt den Nimbus eines bloßen "Gastlandes" (den es ohnehin verloren hat) leisten. Das Bekenntnis zum Einwanderungsland nicht nur für die hier integrierten ausländischen Mitbürger, sondern auch für potenzielle Zuwanderer erlaubt es erst, eine gezielte und an den Interessen des Landes selbst orientierte Zuwanderung zu betreiben: Heute geschieht Zuwanderung zufällig und willkürlich und ohne jegliches politische Konzept. (...)