Die Welt, 17.3.2000

Einwanderung oder Asylrecht?

Debatte von Guido Heinen:

Die Abschaffung des Asylrechts rührt zwar an unserer Verfassung, folgt aber aus einer Zuwanderungsregelung

Deutschland entdeckt seine Ausländer wieder: Der kalabrische Fließbandarbeiter bei Ford der sechziger Jahre ersteht dieser Tage in der Person des indischen PC-Experten bei Siemens wieder auf. Deutschland wagt es, darüber zu diskutieren, welche Ausländer es hereinlassen will. Damit verbunden ist aber auch die Frage, welche man nicht hereinlassen will. Der "Hilferuf einer Branche", den Wirtschaftsminister Müller vernimmt, bringt über Jahre hinweg lieb gewonnene Diskussionsmuster ins Wanken: Innerhalb weniger Tage gerät die Qualität kontrollierter Zuwanderung ins Zentrum der Diskussion. Früher war es die Quantität unkontrollierten Zuzugs. Der von Bundeskanzler Schröder erweckte Eindruck, er könne 10 000 Experten via Green Card ins Land holen, ist irreführend. Denn Schröder operiert mit Quoten und Begriffen des klassischen Einwanderungslandes USA. Aber er täuscht damit die Öffentlichkeit: Weder die Quotierung ist hier zu Lande dauerhaft möglich, noch ist das, woran er denkt, eine "Green Card". Die Green Card ist eine Daueraufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Der Inhaber einer Green Card kann nach fünf Jahren und permanenter Präsenz in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen, nachdem er zuvor einen Staatsbürgerschaftstest absolviert hat. Das, was Schröder jetzt propagiert, entspricht einer klassischen Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung, wie sie auch die USA zur Deckung des Bedarfs an ausländischen IT-Fachleuten ausstellen.

Die Unschärfe der bei dieser Diskussion doch sehr wichtigen Begriffe führt dazu, dass über die notwendige Debatte über die Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarktes auch auf internationalem Niveau durch die Hintertür eine Aufweichung des Ausländerrechts vorbereitet wird.

All jene, die Deutschland endgültig auch rechtlich und strukturell zu einem "Einwanderungsland" machen wollen, sehen jetzt ihre Chance. Ein Einwanderungsgesetz soll alles regeln. Dies würde aber bedeuten, dass hier zu Lande eine neu zu gründende Einwanderungsbehörde Quoten festsetzt: angolanische Kriegsflüchtlinge, bosnische Fliesenleger, vietnamesische Boat-People, rumänische Ärzte, indische Computerexperten oder iranische Schriftsteller - jährlich würde sie die Quoten zu Schicksal, Nationalität und Herkunft dieser Einwanderer festsetzen. So machen es die klassischen Einwanderungsländer. Aber so würde es in Deutschland nur funktionieren, wenn es kein Grundrecht auf Asyl mehr gäbe. Denn die Wahrnehmung dieses Grundrechts ist ja eben keiner Behördenentscheidung unterworfen.

Deutschland kann nicht beides haben: ein weitestreichendes Asylrecht und eine restriktive Zuwanderungsquotierung. Denn man kann zwar sagen, wie viele Ärzte oder Computerspezialisten man haben will. Man kann aber nicht vorhersagen, wie viele Asylsuchende oder Bürgerkriegsflüchtlinge kommen werden oder kommen sollen.

Bevor also das deutsche Asylrecht grundsätzlich infrage gestellt wird, sollten die Energien zuerst einmal in eine europäische Harmonisierung gesteckt werden. So muss schnellstens sichergestellt werden, dass Asylverfahren in der Hand des Staates bleiben, mit dem der Asylbewerber erstmals Kontakt hat. Auch sollten Sozialleistungen, Anerkennungskriterien und Ausweisungsmaßstäbe europaweit einheitlich geregelt werden. Vor allem aber muss sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass es einen klaren europäischen Verteilungsschlüssel - ähnlich wie zwischen Bundesländern - gibt. Dann hätten Asylsuchende nicht mehr Anspruch auf Aufenthalt in einem bestimmten Mitgliedsstaat, und die Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge ginge stark zurück.

Wie immer die Diskussion über den Zuzug ausländischer IT-Experten ausgehen mag, das deutsche Asylrecht steht auf dem Prüfstand. Denn die europäische Harmonisierung wird nicht ohne Senkung der hohen deutschen Standards zu haben sein. Und wenn Teile von Rot-Grün wirklich eine Debatte um ein Einwanderungsgesetz lostreten - was Schröder und Schily fürchten und zu verhindern suchen -, wird das Asylrecht auch innenpolitisch nicht mehr zu halten sein. Schon jetzt fragen sich viele Bürger, was das für ein Recht ist, nach dem zwar Tausende Asylbewerber einreisen, aber nur drei Prozent wirklich anerkannt werden.

Die von der Union vorgeschlagene Umwandlung des bisher individuell garantierten Asylrechts in eine "institutionelle Garantie" rührt zwar an den Grundfesten unserer Verfassung. Aber sie ist denkbar, wird von vielen westlichen Staaten vorgelebt und wäre sicher die richtige pragmatische Antwort auf die neue Debatte. Es ist schließlich schwer vorstellbar, dass sich angesichts der neuen globalisierten Fragestellungen nahezu jeder Rechtsbereich fundamental verändert und nur das Asylrecht davon unberührt bleibt. Denjenigen, die das noch glauben, kann man nur zurufen: "Willkommen in der Wirklichkeit!"