Frankfurter Rundschau, 17.3.2000

Auf dem Rückweg in die Hölle

In Hamburg droht ehemaligen Kindersoldaten aus Sierra Leone die Abschiebung - sie hätten dort keine Chance

Von Jörg Schindler (Hamburg)

Mahmoud war 13, als Rebellen in sein Dorf kamen, um Zivilisten zu waschen. Gerüchte hatten die Menschen in Makali schon Tage zuvor gehört. Irgendwann hörten sie auch das Gefechtsfeuer. Früh morgens tauchten die Kämpfer schließlich auf, jagten die Menschen aus ihren Häusern und trieben all jene zusammen, die sie für regierungstreu hielten. "We de go wash am", juxten die Rebellen - überlebt hat den Reinigungsprozess keiner. "Zwei, drei Jungs", sagt Mahmoud, hätten sie dann lachend erschossen. Und damit war die Frage beantwortet, wer den Rebellen künftig helfen wolle und wer nicht. "Jeder muss sich beweisen", sagten die Kämpfer auch zu Mahmoud und drückten ihm ein Gewehr in die Hand. "Warum unsere eigenen Leute?", wollte der Junge wissen. Die Antwort: "Wenn du weiter fragst, bist du tot." Von da an wollte Mahmoud nicht mehr allzu viel wissen. Die ersten beiden Lektionen lernte der Schüler von seinen neuen Lehrern schnell: "Obey and Fire" - gehorche und schieße.

Mahmoud würde diese Geschichte lieber nicht erzählen. "Es gibt schlimmere", sagt der 18-Jährige, schiebt seine L.A.-Giants-Mütze in den Nacken und blickt hinaus auf den tristen Hamburger Regen. Und überhaupt: Er hat sie im Lauf seines Asylverfahrens doch schon mehrere Male erzählt - geglaubt hat ihm ohnehin niemand. Als er nach zwei Jahren erneut vor den selben Richter trat, sagte der, sein Bericht habe damals nicht genauso geklungen. "Als ob mein Kopf ein Computer wäre."

Mahmoud würde gern von Sierra Leone erzählen, davon, wie wenig sich der Westen um die Menschen an diesem westlichen Zipfel Afrikas schert. Und wie viel um die Diamanten. Er würde darüber sprechen wollen, dass das ganze Land nach fast zehn Jahren Bürgerkrieg einem riesigen Schutthaufen gleicht. Vielleicht auch über die anderen Kindersoldaten, die neben ihm sitzen, über Alfred oder Osman oder Amadou, die sich seit vier oder fünf oder sechs Jahren fragen, ob ihre Eltern noch leben. Aber seine eigene Geschichte? "Das finde ich schwierig - es sind so viele schlimme Sachen passiert."

Zum Beispiel die Angriffe auf andere Dörfer und Soldaten. Die Jungen, zwölf, 13, 14 Jahre alt, immer vorneweg, damit ein paar lebende Schutzschilde zwischen den Anführern der Revolutionary United Front und den Kugeln der Armee rannten. Immer die selbe Taktik in drei Gruppen: ein ambush-team, das im Hinterhalt lauert, ein bypass-team, das auf Umwegen angreift und ein racing-team, das direkt auf den Gegner rennt. Im racing-team starben die meisten. Im racing-team kämpfte auch Mahmoud. Aber der hatte wie die anderen Drogen im Kopf, die sie ihm ins Essen getan hatten. "Und wenn du Drogen hast, hast du gar nichts im Kopf."

Mahmoud hatte - wenn man so will - Glück. Eines Tages lauerten die Soldaten der sierra-leonischen Armee selbst im Hinterhalt und nahmen den Jungen gefangen. Sie brachten ihn und die anderen, die noch lebten, nach Mile 91, das so heißt, weil es 91 Meilen von der Hauptstadt Freetown entfernt liegt. Dort prügelten sie ihn, bis er sagte, was sie wissen wollten, und verfrachteten ihn anschließend nach Freetown. Unter Bewachung musste er Knochenarbeit leisten, bis er fliehen konnte: "Unsere Soldaten sind nicht sehr diszipliniert", sagt Mahmoud, "und ich habe bei den Rebellen einiges gelernt." Der Junge schlug sich zu seinem Onkel durch. Der aber wollte ihn aus Angst nicht bei sich behalten, also verschaffte er seinem Neffen ein Versteck auf einem Schiff. Mahmoud wusste nur, dass es ihn weg bringen würde aus Sierra Leone, irgendwohin. Später lernte er, "irgendwo" wie Deutschland zu buchstabieren.

Seit gut vier Jahren lebt der 18-Jährige nun in Hamburg. Er würde gerne zurück nach Sierra Leone, vor allem um herauszufinden, was mit seiner Familie geschehen ist. "Aber überleg mal: Für die Zivilisten bin ich ein Mörder, die Rebellen sagen, du hast uns verraten, und die Regierung sagt, du bist ein Rebell." Vor ein paar Tagen, sagt Alfred, habe er von einem jüngst aus Braunschweig abgeschobenen Freund einen Brief erhalten: Weil er in seinem Heimatdorf von Menschen, deren Verwandte er getötet hatte, bedroht wurde, sei er nun nach Gambia geflohen. Unter solchen Umständen zurückkehren? "Das geht nicht."

Die Hamburger Ausländerbehörde freilich sieht das anders. Sie hat Mahmoud und 249 weitere Afrikaner, viele davon ehemalige Kindersoldaten, für den kommenden Montag und die beiden darauffolgenden Tage in die Amsinckstraße zitiert. Dort wird ein Vertreter der sierra-leonischen Botschaft, beäugt unter anderem vom Bundesgrenzschutz, in jeweils wenigen Minuten und für viel Geld versuchen herauszufinden, ob sein Gegenüber tatsächlich aus dem westafrikanischen Land stammt. Kann der Diplomat diese Frage bejahen - und das wird er, wie die Erfahrungen der letzten Monate zeigen, in etlichen Fällen tun -, erhält der Flüchtling so genannte Passersatzpapiere. Die Abschiebung ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Kritik an diesem Vorgehen kann der Sprecher der Ausländerbehörde "nicht verstehen". "Die Rechtsprechung hat uns Recht gegeben - und das ist das Entscheidende." Außerdem stehe es dem Amt nicht zu, über "zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse" zu befinden.

Im Klartext heißt das: Es braucht die Hamburger Ausländerbehörde nicht zu kümmern, dass Human Rights Watch erst jüngst "zahllose Misshandlungen" aus der Port-Loko-Region meldete, darunter die Vergewaltigung von Elfjährigen, mehrere Morde und 118 Entführungen. Auch ein Camp, in dem nach wie vor Kindersoldaten ausgebildet werden, hat die Organisation entdeckt. Es kann dem Amt egal sein, was das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende vergangenen Jahres zu berichten wusste: In Sierra Leone, so schrieben die Helfer, herrsche zwar seit Juli 1999 offiziell Frieden, tatsächlich aber gebe es in weiten Teilen des Landes nach wie vor Gefechte. Zwei Drittel des Landes würden weiterhin von den RUF-Rebellen unter Kommandant Bockarie kontrolliert, und dort sei die "Infrastruktur völlig zusammengebrochen". Im zerstörten Freetown sei die Lage zwar etwas besser, die Stadt sei aber "stark überbevölkert". Das UNHCR "rät deshalb weiterhin von Rückführungen nach Sierra Leone ab". Und schon gar nicht müssen sich die Hamburger von internationalen Warnungen beeindrucken lassen, wonach der Entwaffnungsprozess kaum vorankommt, zehntausende Sierra-Leoner am Lassa-Fieber erkrankt und eineinhalb Millionen vom Hungertod bedroht sind.

Das einzige, worum die Behörde sich scheren muss, sind die Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Und das verfügt offenbar über andere Informationen als UN, EU-Parlament und Hilfsorganisationen: Am 22. Februar widerrief das Bundesamt die Abschiebungshindernisse für einen jungen Sierra-Leoner mit dem Hinweis, die Lage in dessen Heimat habe sich "erheblich gebessert". "Eine extreme Gefahrenlage wäre nur anzunehmen, wenn jeder einzelne Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde", so die Begründung, in der nicht recht klar wird, wer eigentlich in diesem Fall mit "Ausländer" gemeint ist. Im Übrigen, befand der Autor, stellten "Racheakte der Bevölkerung oder durch die Rebellenorganisationen keine politische Verfolgung dar". In ihrer Einschätzung beruft sich die Behörde unter anderem auf das Auswärtige Amt.

Abfinden wollen sich Mahmoud und die anderen Jugendlichen damit nicht. Gemeinsam mit Hilfsorganisationen werden sie von Montag an vor der Ausländerbehörde gegen die Zwangsvorführungen demonstrieren. Einige Anwälte haben schon im Vorhinein Widerspruch eingelegt, weil sie das gesamte Procedere für rechtswidrig halten. Denn bei den jüngsten Anhörungen, so berichteten Augenzeugen, hätten die Botschaftsvertreter Einblicke in Asylakten erhalten, Begleitpersonen seien drangsaliert, Protokolle gar nicht erst geführt worden. In der Behörde selbst freilich ist von all dem "nichts bekannt".

Eine kleine Gruppe von Flüchtlingen habe zudem kürzlich die Bonner Botschaft von Sierra Leone aufgesucht, sagt Mahmoud. Genützt habe es jedoch nichts. Von folgendem Dialog in der diplomatischen Vertretung weiß der Jugendliche zu berichten: "Frage: Wisst ihr nicht, was los ist in Sierra Leone? Anwort: Das wissen wir schon. Frage: Warum sagt ihr das nicht der Ausländerbehörde? Antwort: Was sollen wir tun, wenn sie euch nicht mehr in Deutschland haben wollen?"