taz Bremen, 13.3.2000

"Ein grober Verstoß gegen die Menschenwürde"

Amnesty international sieht zwar Verbesserungen in der Menschenrechtspolitik, mahnt aber mehr Transparenz an / Interview mit ai-Generalsekretärin Lochbihler Barbara Lochbihler ist die Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international

Frau Lochbihler, haben Sie gehört, dass die Bremer Ausländerbehörde zum Zweck der Abschiebung einen Schleier in das Passfoto einer Iranerin montierte?

Ja, dieser Vorfall ist uns bekannt. Das Prinzip der Arbeit von amnesty ist jedoch, dass man nicht zu Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land arbeitet. Deshalb hat unsere Londoner Zentrale in einem Brief an Bundesinnenminister Otto Schily auf diesen Missstand hingewiesen. Das ist ein grober Verstoß gegen die Menschenwürde und das Menschenrecht auf Religionsfreiheit.

Von Bremen aus werden Afrikaner nach Ghana abgeschoben, auch wenn sie aus anderen Ländern stammen. Sie werden dabei von ghanaischem Sicherheitspersonal begleitet. Ist der Schutz der Menschenrechte dabei gewährleistet?

Die Abschiebung in ein anderes Land ist möglich, solange dort keine Gefahr besteht. Die müsste im Einzelfall nachgewiesen werden, etwa durch vorherige, ähnlich gelagerte Fälle. Wir kennen beispielsweise mehrere Fälle von Togoern, die nach ihrer Abschiebung aus Ghana in Togo inhaftiert wurden und sich immer noch in Haft befinden.

Haben Sie den Eindruck, dass die ghanaischen Behörden so etwas billigend in Kauf nehmen?

Wie die vorgenannten Fälle togoischer Staatsangehöriger zeigen, muss man davon ausgehen.

Hat sich die Menschenrechtslage in Togo nicht verbessert, wie die Bundesregierung gern behauptet?

Das würde ich nicht so sehen. Wir haben verschiedene Berichte über Togo veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass viele Oppositionelle schwer gefoltert wurden und deshalb in Nachbarländer flüchten mussten. Wir fordern, dass alle Verbrechen des Eyadema-Regimes in einem Prozess aufgerollt werden.

Es hat keine "Selbstreinigung" des Regimes gegeben?

Ohne internationalen Druck wird es keine demokratischeren Strukturen in Togo geben. Warum sollte Präsident Eyadema das auch tun? Er weiß doch, dass er Unterstützung zum Beispiel aus Frankreich erhält.

Die Bundesrepublik ist in die Kritik geraten, weil sie Abschiebungen aufgrund von nicht immer zutreffenden Berichten des Auswärtigen Amtes durchführt. Gibt es Alternativen dazu?

Auslöser der Kritik war, dass das Außenministerium schon grünes Licht für die Bombardierung Ju-goslawiens gegeben hatte, laut Lagebericht des Auswärtigen Amtes die Menschenrechtslage im Kosovo dagegen noch nicht so bedenklich erschien. Seitdem hat es Veränderungen gegeben. Das Auswärtige Amt hat das UNHCR und NGOs wie ProAsyl und amnesty konsultiert. Der Lagebericht zur Türkei ist dadurch faktischer und weniger interpretativ geworden. Aber das war einer der wenigen Berichte, an denen wir bisher mitwirken konnten. Wir fordern, dass die NGOs rechtzeitiger und häufiger konsultiert werden müssen.

Sind die Berichte geheim?

Ja, mit der Begründung, dass die darin an anderen Ländern geübte Kritik zu diplomatischen Verwicklungen führen könnte. Nicht einmal die Parlamentarier bekommen diese Berichte automatisch. Das war früher noch viel schlimmer. Immerhin können sie die Berichte jetzt im Auswärtigen Amt einsehen. Im Internet gibt es allerdings Quellen, die auf die deutschen Lageberichte verweisen.

Würden Sie darauf drängen, dass Ihre Mitwirkung für alle Länder institutionalisiert wird?

Wir hoffen das sehr. Wir kennen ja nicht alle Lageberichte, aber es ist doch anzunehmen, dass man eine objektivere Sicht der Dinge hat, wenn man die Sachlage aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, als wenn dies nur auf Regierungsebene geschieht.

Könnte amnesty das überhaupt für alle Länder leisten?

Ja, unser Londoner Büro arbeitet flächendeckend.

Einige nordeuropäische Staaten verschärfen gegenwärtig ihre Asylgesetze. Fürchten Sie, dass sich die Bundesrepublik nach unten anpasst?

Das hoffe ich nicht. Wir fordern, dass sich das deutsche Asylrecht an europäische Standards anpasst. Wir haben Aufholbedarf, zum Beispiel was die Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung angeht. Da sind andere europäische Länder schon weiter. Die deutsche Regierung hat einen Vorbehalt zur Kinderrechtskonvention gemacht, wonach Bestimmungen der Konvention nationalen Gesetzen gegenüber nicht vorrangig sein sollen. Dies bedeutet konkret, dass das Wohl und der Schutz des Kindes nicht vorrangig gegenüber dem deutschen Ausländerrecht stehen. Damit sollte verhindert werden, dass es für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge einen "zusätzlichen Anreiz" zur Einreise gibt. Das halten wir für geradezu zynisch. Wir denken, dass das Asylrecht verbessert werden sollte. Die EU hat auf dem Gipfel in Tampere beschlossen, ihre Flüchtlingspolitik an der UN-Flüchtlingskonvention zu orientieren. Die EU-Mitgliedsstaaten stellen jedoch nicht den Schutz von politischen Flüchtlingen in das Zentrum ihrer Flüchtlingspolitik, sondern die Abwehr illegaler Einwanderung. Wir waren natürlich besorgt, als Äußerungen von Herrn Schily darauf hindeuteten, dass das deutsche Asylrecht mehr oder weniger zu einem Gnadenakt verkommen sollte. Das ist für uns nicht akzeptabel. Politische Flüchtlinge haben das Recht auf Schutz vor Verfolgung. Wir hoffen, dass es in der Bevölkerung zu genügenden Protesten kommt, wenn solche Vorschläge wieder in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.

Was ist der künftige Arbeitsschwerpunkt von amnesty?

Wir werden vor allem die präventive Menschenrechtsarbeit ins Zentrum stellen. Wenn sich die ganze Debatte während einer schweren Menschenrechtkrise verengt auf die Frage nach einer militärischen Intervention, ist es eigentlich schon zu spät. Man muss früher ansetzen und rechtzeitig auf unsere Veröffentlichungen zu schweren Menschenrechtsverletzungen politisch reagieren. Wir müssen von early warning zu early action kommen. Außerdem arbeiten wir zum Thema wirtschaftliche Interessen und Menschenrechte. Wer zum Beipiel Waffen an Menschenrechtsverletzer liefert, ist mitverantwortlich. Es ist richtig, dass die Bundesregierung die Waffenexporte mehr an Menschenrechte binden will. Aber auch hier fehlt es an parlamentarischer Kontrolle. Als drittes wollen wir den Schutz der Menschenrechtsverteidiger verbessern. Die Bundesrepublik könnte hier helfen, indem beispielsweise Menschenrechtsaktivisten vorübergehend aufgenommen werden oder zu Fortbildungen einreisen können. In Spanien ist so etwas schon möglich.

Ist insgesamt die Zusammenarbeit mit der neuen rot-grünen Bundesregierung einfacher geworden?

Ja, der Dialog wird gesucht. Strukturelle Verbesserungen sind der Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen Amt und der Ausschuss für Menschrechte und humanitäre Hilfe. Trotzdem müssen wir genau beobachten, inwiefern Menschenrechte ein Kriterium für politische Entscheidungen sind und nicht nur Lippenbekenntnisse. Im Fall von China und Saudi Arabien wird sich zeigen, ob die wirtschaftlichen Interessen nicht doch wieder im Vordergrund stehen.

Wie sieht amnesty die Annäherung der Türkei an die Europäische Union?

In der Türkei kommt es weiterhin zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Es wird regelmäßig gefoltert in den Gefängnissen, es verschwinden Leute, es gibt Morddrohungen. Die Regierung muss sich für die Missstände verantworten. Dennoch kann eine Chance darin liegen, dass in den Beitrittsverhandlungen diese Miss-stände thematisiert werden und Verbesserungen verlangt werden. Auf den Fall Öcalan hatte das Einfluss. In der Türkei wird die Todesstrafe seit 15 Jahren nicht mehr vollstreckt. Würde das jetzt unterbrochen werden, wären Tür und Tor geöffnet für mehr Hinrichtungen.

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