Bieler Tagblatt (CH), 11.3.2000

Türkei: Kurdistans millionenstadt

Diyarbakir: «Mein Name ist Bleigrau»

Eine Festungsmauer aus schwarzen Basaltquadern kündigt dem Besucher das kurdische Diyarbakir an. Die Millionenstadt am Tigris hat viele Gesichter. Eins davon ist düster, abweisend - wie die Mauer.

Jan Keetman, Diyarbakir

Der türkische Romancier Orhan Pamuk hat dieses Gesicht Diyarbakirs sprechen lassen. Bei ihm sagt die Stadt der Militärstationen und Polizeiwachen, der Gefängnisse und Armenviertel nur diesen einen Satz: «Mein Name ist Bleigrau.»

Eine Stadt der Kinder
In der Innenstadt eine andere Erfahrung: Diyarbakir ist vielleicht die lebendigste Stadt der Türkei - eine Stadt der Kinder. In der Altstadt erfahren Dreikäsehochs mit staunenden Augen ihre Welt. Auf der Gazi Caddesi werden Spielsachen angeboten: Plastikautos, Enten mit rotem Schnabel und Glubschaugen. Dazwischen volle Karren der Händler: Orangen, Nüsse, Berge getrockneter Feigen, Pistazien. Buntes Volk drängt sich, Männer im Anzug mit Krawatte, Frauen mit Kopftuch oder in modernen Mänteln, Männer in Reithosen, Burnus, Frauen im Tschador.

Beim Vali grüsst der Orient
Der mächtigste Mann Diyarbakirs ist der Gouverneur für die «Gebiete im Ausnahmezustand», Gökhan Aydin. Gegen seine Anweisungen gibt es keinen Widerspruch - nicht einmal auf dem Rechtsweg. Er kann Zeitungen verbieten oder das Wohnen in bestimmten Dörfern. Ausnahmezustand herrscht in fünf statt wie früher in 13 Provinzen. Der Sitz des Gouverneurs befindet sich mitten in einem riesigen Militärgelände. Ein breiter Gang im Hauptgebäude führt auf eine mit Leder gepolsterte Türe zu, wo die Aufschrift «Vali» (Gouverneur) prangt. Doch der Prachteingang ist nicht für alle - der Gast wird in eine Seitentüre geschoben. Das Büro, in dem der Gouverneur empfängt, ist komfortabel wie eine Wohnung. Der Chef lässt türkischen Kaffee servieren, und er hat viel Zeit für Fragen und Antworten. Wer meint, mit dem Rückzugsbefehl des vom Strang bedrohten PKK-Chefs Öcalan habe sich die Lage entspannt, der Ausnahmezustand könnte aufgehoben werden, der findet bei Aydin kein Gehör: Zwar sei «ein gewisser Grad an Ruhe und Sicherheit» erkämpft, doch solange «bewaffnete Gruppen im In- und Ausland» bestünden, habe der Terror nicht aufgehört.

Schweiz kein Massstab
Davon, auf der eigenen Seite kulturell etwas abzurüsten, Unterricht in kurdischer Sprache zuzulassen, hält der Gouverneur gar nichts. Zu Hause könne jeder sprechen, wie er wolle, aber jeder Staat habe seine offizielle Sprache, meint er und lässt sich auch von dem Einwand nicht verwirren, dass z. B. die Schweiz drei offizielle Sprachen habe. «Ja, unter den Bedingungen der Schweiz», erwidert er, «die Türkei ist in einer anderen geopolitischen Lage. Angesichts der äusseren Gefahren, denen sie ausgesetzt ist, würde kein europäischer Staat weicher, eher härter reagieren.» Dann fügt der türkische Beamte - wohl die Geschichte von Zerfall und Untergang des Osmanen-Reiches im Hinterkopf - hinzu: «Geteilt zu werden, zerstückelt zu werden, bedeutet vernichtet zu werden.»

Heikle Frage der Rückkehr
Wenn die Sprache nicht erlaubt wird, dann vielleicht die Rückkehr in die Dörfer? Da sieht Aydin keine grossen Probleme. Der Staat habe bisher die Rückkehr in 448 Dörfer gefördert, meint er. Allerdings wollten ohnehin nur wenige wieder in die Dörfer zurück. Die Menschen hätten sich an die Stadt gewöhnt, sie hätten da ihre Arbeit. Beim Abschied kann es sich der Gouverneur nicht verkneifen, ein wenig Missbilligung der Behandlung der Türkei durch die Europäer zum Ausdruck zu bringen. Zweimal sagt er, mit Betonung auf der zweiten Satzhälfte: «Wir wollen zum Westen gehören - trotz den Westlern.»

Von Dorfaufbau keine Spur
Was beim Gouverneur überzeugend klang, wird vom Anwalt Hasan Dagtekin, zugleich Kreisvorsitzender der kleinen Partei für Demokratie und Frieden (DBP), angezweifelt. Dagtekin sagt, er komme aus Lice: Im ganzen Umkreis der Stadt sei kein einziges Dorf wieder aufgebaut worden. Wahrscheinlich handle es sich bei den Rückkehrern, von denen der Gouverneur spreche, meist um Leute, die in Dörfer zurückkehren, die nie ganz verlassen wurden.

«Wir ersehnen den Tag»
Ein ehemaliger Dorfvorsteher aus der Nähe von Kulp sagt dazu aus eigener Anschauung: «Wir alle, zwischen sieben Jahren und hundert Jahren, sehnen den Tag herbei, an dem wir in unser eigenes Dorf zurück können. «Walnussbäume, Tabak, Seidenraupenzucht, Imkerei, alles haben wir zurücklassen müssen.» Der Dorfvorsteher, der Unterschriften von 250 kurdischen Haushalten vorweisen kann, die in ihr Dorf zurück wollen, tat alles Erdenkliche für die Erlaubnis zur Rückkehr. Er drang mit einem Gesuch bis zum damaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz vor, der ihm antwortete, er könne in sein Dorf zurück. Die vor Jahren erteilte schriftliche Erlaubnis trägt der Dorfvorsteher in der Tasche: Vor Ort galt das Wort des Premiers weniger als das Veto des Brigadekommandanten.

«Haben die falsche Zunge»
Der untersetzte Mann, den man sich als reichen Bauern in seinem Dorf vorstellen kann, sagt bitter: «Wir haben die falsche Zunge.» Ein anderer ehemaliger Dorfbewohner ergänzt: «In den Dörfern war die kurdische Sprache und Kultur immer am stärksten - deshalb lässt man uns nicht zurück.» Am Abend gibt es Anschauungsunterricht in Sachen Pressefreiheit. Der Korrespondent im Büro der kleinen, in Türkisch und Kurdisch erscheinenden Monatszeitung «Roja teze» (Neuer Tag) merkt es am energischen Klingelton: «Jetzt kommt die Polizei.» Durch die Türe kommen tatsächlich zwei Polizisten in Zivil, die einen 13-Jährigen vor sich herschieben. Sein geschwollenes Gesicht erübrigt jede Frage nach der Art seiner Behandlung. Er trägt das Corpus delicti, einen Stapel Zeitungen. Das Büro wird nach weiteren Zeitungen durchsucht. Der eine Polizist trägt Zeitungen herbei, der andere fragt über Telefon, welche Nummern verboten sind - es sind so ziemlich alle. Auf die Frage, was mit den Zeitungen geschieht, die beschlagnahmt werden, antwortet der Beamte am Telefon «Wir schicken sie der Staatsanwaltschaft», und sein Kollege ergänzt: «Dort werden sie sofort vernichtet.»

Zeitungen und Bücher
Nach den Zeitungen kommen die Bücher: Mühsam gibt der Mann am Telefon teils kurdische Titel und Autoren durch und sortiert sie auf zwei Stapel. Offenbar fühlt er sich - derart bei der Arbeit beobachtet - nicht so wohl. Etwas hilflos fragt er schliesslich: «Werden denn in Europa keine Zeitungen beschlagnahmt?»