Stuttgarter Zeitung, 11.3.2000

Haftstrafe für Erbakan:

Die Armee regiert

Die Türkei ist auf dem Weg nach Europa! So sieht man es zumindest in der EU. ,,Unumkehrbar'' sei der Prozess der europäischen Integration der Türkei, glaubt jedenfalls EU-Kommissar Günter Verheugen, nachdem er in Ankara Gespräche geführt hat. Wenn das nicht wieder einmal gegenseitige Missverständnisse sind, die in den Beziehungen zwischen Europa und der Türkei schon so oft eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben! Wie grundlegend unterschiedlich das Demokratieverständnis in der Türkei und in Europa ist, zeigt sich jetzt wieder drastisch. Wegen einer Rede ist der ehemalige türkische Regierungschef Necmettin Erbakan zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Das Staatssicherheitsgericht wirft dem Islamisten vor, er habe eine Spaltung des Volkes bewirken wollen, ja, er habe zu Feindschaft und zu Hass aufgestachelt. Ein schlimmes Urteil. Aber konsequent. Schließlich musste Erbakan 1997 auf Drängen der Armee nach nur einem Jahr sein Amt als Ministerpräsident aufgeben. Auf Drängen der Armee wurde dann seine Wohlfahrtspartei verboten. Erbakan darf kein politisches Amt mehr ausüben. Die Armee wacht über die Verfassung. Der Generalstab als Hüter der demokratischen Werte! In Wahrheit hat Necmettin Erbakan zwar viel Unsinn geredet. Aber seine von ihm gegründete Partei wurde auf Anhieb stärkste Kraft im türkischen Parlament, bevor sie dann verboten wurde. Seine Partei kümmerte sich um die Millionen Armen in den Großstädten und auf dem Lande. Die Armee aber hütet das Erbe von Kemal Atatürk aus den zwanziger Jahren. Wer dagegen ist, landet im Zweifelsfall im Gefängnis. So lassen sich Demokratie und Islam nicht miteinander versöhnen.Von Adrian Zielcke