Die Welt, 11.3.2000

Der Brief des Generals

Die türkische Journalistin Nadire Mater steht wegen eines Bestsellers vor Gericht: In "Mehmets Buch" hat sie Interviews mit Soldaten über den Krieg gegen die Kurden gesammelt

Von Thomas Delekat

Hört sie das nicht? Das Knarzen der Richterstühle. Die Brandung draußen, die Gischt des Bosporus, die schäumend die Ufermauern hinabströmt. Sie scheint nichts zu sehen, sie scheint nichts zu hören. Die Angeklagte steht still, sie hat ihren weichen Hut neben sich gelegt. In dem geweißten, kahlen Zimmer ist sie blind vom Rot der Roben. Drei rote Roben, auf die sie schaut, drei rote Roben, die sie nicht sieht, drei goldene Stehkragen, die wie Heiligenscheine drei bebrillte Altherrengesichter umschirmen. Die Gründe, die Paragrafen, die Vorwürfe, die Schuld. Eine Protokollantin schlägt sie prasselnd mit sehnigen Fingern in eine mechanische Schreibmaschine. Der Staatsanwalt rechnet mindestens zwei Jahre Gefängnis vor. Aber die Angeklagte hört nichts, die Angeklagte sieht nichts. Das alles kennt sie doch schon, auswendig in allen Einzelheiten, seit diesem schwarzen Tag letzten Juni. Sie hat nur lange nicht gewusst, wer da aus dem Dunkel nach ihr griff, weshalb der Staatsanwalt so unerbittlich eifert. Jetzt weiß sie es, seit wenigen Wochen erst.

Es ist ein Brief gewesen, zwei Seiten lang, verfasst am 18. Juni 1999, mit dem Stempel "GIZLI" auf jeder Seite: "geheim". Einer der Mächtigsten im Land hatte der Justiz geschrieben: General Hilmi Ozkok, Vizechef der türkischen Armee war außer sich - ihretwegen. In den Behörden verflogen vier rasante Tage voller Papierrascheln, hämmernder Stempel und hechelnder Boten. Am Morgen des fünften trat ein Staatsanwalt des Istanbuler Bezirks Beyoglu hervor. Er bezichtigte die Journalistin und Autorin Frau Nadire Mater der "Beleidigung der Armee". Gemäß Paragraf 159, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs, Höchstmaß zwölf, Mindeststrafe zwei Jahre Haft. Ein Paragraf, wie es ihn wortgleich einmal in Italien gab, ein Gesetz Mussolinis. Denn was eine Schuld ist und was eine gerechte Strafe dafür - das bestimmt in der Türkei, seit Atatürk die Republik gründete, eine Kopie des Kodex italienischer Faschisten. Auch heute noch.

Ahmet sagte: "Der Tod ist fünf Zentimeter groß." Ahmet sagte: "Streck den Kopf fünf Zentimeter aus dem Graben. Und während vorn in der Stirn ein Loch sich rundet, schlägt die Kugel aus dem Hinterkopf ins Freie durch." Eine Randbemerkung des 25-jährigen Ahmet, eines schwer bewaffneten türkischen Offiziers irgendwo im türkisch-kurdischen Kampfgebiet. Ahmet, mit glänzenden Abschlüssen in Betriebswirtschaft und Politikwissenschaft, Ahmet besingt den Krieg. Er stimmt den Ton von der Schönheit des Kampfes an, wie so viele in der jungen türkischen Elite: "Der erregende Klang der Kalaschnikows. Sie weissagen den Tod, von weither."

Mit diesen Sätzen Ahmets beginnt "Mehmets Buch", das Erstlingswerk der angeklagten Autorin Nadire Mater. Es ist eine Sammlung von 42 anonymen Interviews junger türkischer Soldaten, keiner älter als 30 Jahre und schon Kriegsveteran. Die Türkei hatte sie gegen die PKK ins Feld geführt, 42 von Hunderttausenden Wehrpflichtigen in den Bergen des Südostens.

Mater hat Ahmet in Istanbul wieder gesehen, Ahmet ohne Uniform und Maschinengewehr, ausgemustert, eine Zufallsbegegnung. Ein paar Tage später stand er vor ihrer Tür. Ahmet wollte reden, Ahmet räumte seine Seele aus, restlos, schonungslos, ehrlos und peinlich. Ahmet war der Erste. Die anderen folgten rasch. Ahmet redete, redete. Er redete vier Stunden lang, ununterbrochen. Es war eine ganz andere Sprache, und es war eine ganz andere, ungeheuerliche Geschichte.

In einem Land, in dem 30 Prozent der Bevölkerung Lesen und Schreiben nicht beherrschen, in dem die Gesamtauflage aller Tageszeitungen bei drei Millionen Exemplaren liegt - bei 65 Millionen Einwohnern -, einem Land, in dem Verlage und Bücher keine Bedeutung haben: In diesem Land hatte ein nahezu allmächtiger General ein Buch gelesen. Die Lektüre von Maters Bestseller "Mehmetin Kitabi" ("Mehmets Buch") ergriff den Militär, sie überwältigte ihn - er ließ sich zu einem Ausfall hinreißen, er überrannte im Handstreich alle Bedenken, Vernunft, taktische Disziplin. Er schrieb einen Brief. Eine sonderbare Art von Rezension, fast könnte man sagen: eine feindliche Hommage. Eigenwillig, wie Militärs zuweilen sind, in Form einer Anzeige.

"Mehmetin Kitabi", politisch ein Nichts. Was ist das schon, ein Bestseller in der Türkei? 15 000 verkaufte Exemplare. In Maters Fall allerdings gut verdoppelt um 20 000 Raubkopien. Diese Kleinigkeit reichte im April und Juni 1999 für den ersten Platz einer türkischen Bestsellerliste. Eine bedeutungsvolle, aber vergebliche Publikation, ein Buch unter anderen in der Türkei, so schien es zunächst.

"Es gab da einen Offizier, den sie den ,Löwen' nannten. Er war meschugge, völlig durchgeknallt, ein Mann von extremer Brutalität. Er traktierte den Rücken der Leute mit einer Spitzhacke, mit dem Stiel. Er tat es mit solcher Wucht, dass der Schaft splitterte." - "Ein Bataillonskommandeur sagte zu mir: Bring du mir einen Kopf - und ich verkürze dir deinen Wehrdienst." - "In einem Dorf traf ich auf eine Spezialabteilung, die Gott spielte. Sie hatten eine Sonderausbildung. Sie schnitten die Nasen oder die Ohren ab und nagelten sie an die Wand. Ich konnte es nicht fassen, dass das Soldaten der türkischen Armee sein sollten." - "Ein Major sagte: Bist du blöd? Der Staat schickt dich hierher, um Kohle zu machen. Was regst du dich auf? Was der Mann hier über die (iranische) Grenze gebracht hat, ist weiß (Heroin)." Nur vier von insgesamt 28 "beleidigenden" Buchzitaten, die Auslese der Staatsanwaltschaft. Die ärgste Kränkung jedoch, glaubt Mater, konnte der General juristisch nicht rächen lassen - Satisfaktion für jene Passagen, in denen Offiziere von ihrer Hasenangst reden, von Rotz, Wasser und heulendem Elend, von Feigheit, von schluchzenden Ru-fen aus dem Schützengraben: Mama, Mama, Mama.

Das alles wäre unter Türken in der Türkei verblieben, wenn sich der General nicht zum Briefschreiben angelassen hätte. Nun läutet die große Glocke der Weltöffentlichkeit zum Gericht. In Washington referierte die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright das Thema Mater und "Mehmets Buch" - bereichert um Reflexionen zum Stand von Pressefreiheit und Menschenrechten in der Türkei. Eine der größten türkischen Zeitungen, "Milliyet", zeigte Mater in einem Aufmacherfoto. Die süffisante Schlagzeile: "Mehmets Frage".

Seit dem 15. August 1984, dem Tag, an dem die PKK schriftlich ihren Guerillakrieg erklärte, schickte die Türkei an die 2,5 Millionen Wehrpflichtige ins Gefecht. Die, die während dieser 16 Jahre heimkehrten, betrachteten ihr Land von nun an als ein heimliches, verschwiegenes Heerlager der Veteranen. Sie strömten Mater nur so zu. Sie drängten aus allen Teilen der Türkei zu ihr hin. Sie alle wollten reden, beichten, und indem sie sprachen, erhofften sie sich Vergessen. Einer sagte: "Ich wusste, dass eines Tages jemand kommt und fragt. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet."

Im Schnitt saß Nadire Mater drei Stunden neben dem laufenden Band, schwieg und lauschte. Es fiel dabei nicht auf, dass es ihr jedes Mal wieder die Sprache verschlug. Sie hörte viel, sie sprach wenig. Einer redete von einer Massenhinrichtung durch die PKK. Sie stellten ihn und 33 weitere türkische Soldaten auf Reihe an den Straßenrand. Dann feuerten sie. Die Salve riss ihn zu Boden, er überlebte als Einziger, mit sieben Kugeln im Leib. Er sei jetzt 25 Jahre alt, sagte er, und jeden Tag danke er Gott für ein wunderbares Geschenk - diesen Rollstuhl hier, andere verkümmerten ihren Lebensrest im Bett. Seine Freundin, seine Liebe, sein Leben von Jugend an, er ist einverstanden: Sie wird einen anderen heiraten müssen. Sein Preis, gekämpft zu haben. Der Mann schwieg, Mater auch. Was hätte sie noch sagen sollen?

Einer wog nur noch 49 Kilo, als er nach Hause kam, gezeichnet von den schweren Misshandlungen seines Bataillonschefs. Einer brachte sich um. Ein anderer seine Verwandten. Einer entführte ein Flugzeug. Einen, dessen Verhaltensstörungen gefährlich wurden, verlegten sie von der Front in eine geschlossene Anstalt. Einer kann nicht mehr schlafen. Einer - wie alle in "Mehmets Buch". Mehmet, schreibt Mater, Mehmet ist der Kellner im Restaurant, der Sicherheitsbeamte in der Bank, der Malermeister, der Arbeitslose auf der Straße und der Angestellte im Supermarkt. Dieser Mehmet in Maters Buch ist fast derselbe wie dieser Paul Bäumer in Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues", wie Frederic Henry in Hemingways "A Farewell to Arms". Mehmet ist zwar zurück. Aber nach allem Grauen, allen Gräueln ist Mehmet unfähig zurückzukehren - zu einem Leben wie zuvor. Mehmet - für die Türkei ist er präzis das, wofür Hemingway und Remarque den Ausdruck "lost generation" und "verlorene Generation" fanden.

Der Ruf zum Wehrdienst sei ihnen als ein heller, patriotischer Fanfarenstoß erklungen, sagten sie. Von hochherzigen Idealen beseelt, liefen sie durch die Kasernentore. Ein junger Akademiker sagte: "Die Grundausbildung - es war die schönste Zeit meines Lebens. Wir standen alle Mann zusammen - und füreinander. Mein Kommandeur ein Leitbild, ein Vorbild, mein Idol. Ich war bereit. Ich hätte mein Leben gegeben." Später verlangten die Umstände nicht sein Leben. Aber beide Beine.

Im Rhythmus von zwei, drei Monaten hat Nadire Mater den Vorladungen des Gerichts zu folgen. Sie nimmt dann ein Taxi zum Bosporusufer - und meistens nach drei, vier Gerichtsminuten wieder eines retour. Jedes Mal war den Richtern ein neuer Grund rechtens, sich nach der Eröffnung zu vertagen - momentan auf den 8. März. Zu all diesen Gelegenheiten sah sich Mater jedes Mal dichter umringt von noblen und besorgt aussehenden Menschen. Zum jüngsten Termin war ein PEN-Vertreter aus Schweden erschienen, eine Juristin von "Anwälte ohne Grenzen", in Begleitung des zuständigen Attachés der schwedischen Botschaft, französische und deutsche Reporter, ein ZDF-Kamerateam, türkische Kollegen von "reporter sans frontières" und, ein wenig auf Distanz, die große Schar lokaler Journalisten. Das ist zu einer ansehnlichen Gesamtprozession aufgelaufen, die vornehm und bedeutungsgewiss absticht vom Flurvolk auf den kahlen Gängen der Istanbuler Justiz. Stumm, vorwurfsvoll füllt die Eskorte das Verhandlungszimmer. Aufrecht steht Nadire Mater vor ihren sitzenden Richtern. Und hinter ihrem Rücken beobachtet genüsslich das Publikum aus aller Welt, wie die schläfrig hingesunkenen Richter sich erschreckt berappeln.

In einem engen, schäbigen Haus, das auf eine der schummrig-dunklen Altstadtgassen hinausgeht, liegt im obersten Stock Nadire Maters Büro. Der Blick reicht weit über Istanbul, über verfallene Dächer hinweg und leere Häuser mit schwarzen Fensterlöchern, den ununterbrochen dröhnenden Verkehr auf sechs Spuren, den Bosporus, die Minarette, den Smog, die Gassen so eng, so tief, dass kaum Licht hinabdämmert. Die Fensterscheiben des Büros, das sie sich mit zwei anderen Journalisten teilt, klappern in dünnen Aluminiumrahmen. Der Teppich, das Sofa, der alte Computer auf dem alten Schreibtisch - das alles hat deutsche Abschreibungsfristen wohl an die vier Mal überrundet.

Inmitten des abgestoßenen Interieurs Nadire Mater, eine Frau Anfang 50, eine damenhafte Erscheinung, eine Intellektuelle westlicher Prägung, mit stilsicherem Auftreten und mühelosem Konversationsenglisch. Dazu verheiratet. Außerdem Mutter einer erwachsenen Tochter und völlig unbescholten - auf den ersten Blick das Muster einer Märtyrerin der Pressefreiheit. Sie weist freundlich lächelnd auf einen Besucherstuhl. Es ist eine kleine Geste von höflicher Nebensächlichkeit - und doch gibt ihr Fingerzeig die erste Ahnung davon, wie sehr sich der General in ihr verschätzte. "Meinungsfreiheit, Menschenrechte", sagt Mater gelassen, "es weht ein Luftzug durch die Türkei" - noch vor zwei Monaten sei sie auf eine lange, harte Strafe gefasst gewesen. Nun könne es sein, dass im kahlen Zimmer am Bosporus das Urteil ergeht wie eine Staatsbotschaft: Hierher geschaut, ihr unverschämt ungläubigen EU-Europäer! Nadire Mater frei. Seht ihr, wie sorgenvoll die Türkei ihre dreistesten Kritiker umhegt?

Es hatte für alle den immer gleichen Anfang genommen, an einer Linie und mit dem Befehl: "Stiiiiiillgestandennn!!" Nun sind sie erneut angetreten. 42 türkische Wehrpflichtige, 42 Ehemalige, freiwillig, auf eigenen Befehl. Es sei an der Zeit, Nachmeldung zu machen, sagten sie. Dafür übergingen sie die letzten Reste ihrer Soldatenehre - die Scham und die Verschwiegenheit. Nach einem dieser rücksichtslosen, erschöpfenden, stundenlangen Monologe ergriff eine Mutter Nadire Maters Arm. Sie zog sie zur Seite. Sie sagte: "Das zu erfahren, was mein Sohn Ihnen gerade eben erzählt hat: Dafür wäre ich zu allem fähig gewesen." Mater, die Kassette in der Hand, schämte sich ihres Privilegs.

Nadire Mater, beklagt der Beleidigung der Armee, Paragraf 159 Strafgesetzbuch, hat gute Chancen, dieses Gesetz zu überwinden. Denn ihr Vergehen zitiert der höchste türkische Richter in aller Öffentlichkeit mit Widerwillen, es ist ein Satz, den auch die EU sofort ersatzlos gestrichen sehen will. In einem Punkt, ein Pünktchen nur, gewann sie schon, ein kleiner Ruhm. Denn dass der türkische Index ihr Buch aufführt, tut der Praxis nichts. Vielleicht nicht die allererste Buchhandlung, sicher aber die zweite - allerspätestens jedoch die dritte rückt mit "Mehmetin Kitabi" heraus. Denn weder wiegen Bücher viel in der Türkei, sagt Nadire Mater, - noch werden sie schwer genommen. Es sei denn, ein General nimmt eines zur Hand und schreibt einen Brief.