Frankfurter Rundschau 9.3.2000

Gefangen, gefoltert, spurlos verschwunden

Der jüngste Bericht des US-Außenministeriums wirft Behörden der Türkei schwere Menschenrechtsverstöße vor

Von Gerd Höhler

Im März vergangenen Jahres wurde Süleyman Yeter von der Politischen Polizei abgeholt. Die Beamten brachten den Gewerkschafter ins Istanbuler Präsidium. Wenig später war Yeter tot. Bei der Autopsie stellten die Ärzte Knochenbrüche und Blutergüsse fest, die von Schlägen herzurühren schienen. Als Todesursache ermittelten sie "Druck auf den Nacken". Möglicher Hintergrund des Todes in der Arrestzelle: Yeter war Nebenkläger in einem Strafverfahren gegen acht Polizisten, die beschuldigt wurden, Gefangene gefoltert und vergewaltigt zu haben.

Der Fall des Süleyman Yeter findet Erwähnung im kürzlich veröffentlichten Bericht des US-Außenministeriums zur Menschenrechtssituation in der Türkei. Der 61 Seiten umfassende Report attestiert der Regierung in Ankara zwar, dass sie in jüngster Zeit einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht habe, deren Ziel es sei, Missstände abzustellen. Auch sei inzwischen eine "breite Debatte" über Menschenrechtsfragen in Gang gekommen. In der Praxis aber, so stellt der Bericht fest, sind schwere Menschenrechtsverletzungen weiterhin an der Tagesordnung. Dazu gehören Folter und Misshandlungen durch die so genannten Sicherheitskräfte, Ermordungen und Verschwindenlassen von Bürgerrechtlern, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, massive Behinderungen der Arbeit missliebiger politischer Parteien und Menschenrechtsgruppen, die Vertreibung hunderttausender Kurden aus ihren Dörfern in den Südostprovinzen und das kurdische Sprachverbot in Massenmedien und Schulen.

Trotz gegenteiliger Beteuerungen der Politiker in Ankara seien "Folter, Schläge und andere Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte weit verbreitet", konstatiert der Bericht. Die meisten Personen, die wegen angeblicher politischer Vergehen in Polizeigewahrsam kommen, würden gefoltert. Der Report nennt die am häufigsten angewandten Foltermethoden: die Festgenommen werden systematisch geschlagen, sie müssen sich nackt ausziehen und bekommen die Augen verbunden, sie werden mit extrem kaltem Wasser aus Hochdruckschläuchen malträtiert und mit Elektroschocks gequält. Die Falaka, das Schlagen auf die nackten Fußsohlen, Quetschungen der Genitalien, das Aufhängen an den Armen, das Einführen von Schlagstöcken oder Gewehrläufen in Vagina oder After, Verbrennungen, Scheinexekutionen, Essens- und Schlafentzug sind weitere geläufige Folterpraktiken auf den türkischen Polizeiwachen. Immer häufiger, so stellt der US-Bericht fest, werden für die Misshandlungen nicht mehr Schlagstöcke, sondern Sandsäcke benutzt, die weniger Spuren hinterlassen.

Bei den fünf Zentren für die Rehabilitierung von Folteropfern, die die Türkische Menschenrechts-Stiftung betreibt, meldeten sich im vergangenen Jahr etwa 700 Menschen. Doch die Dunkelziffer ist vermutlich sehr groß. Türkische Menschenrechtsgruppen schätzen, dass höchstens 20 Prozent der Folter-Fälle bekannt werden. Die meisten Opfer schweigen aus Furcht vor weiteren Repressalien, aus Scham oder weil sie meinen, dass Beschwerden ohnehin sinnlos sind.

Begünstigt werden Misshandlungen durch die zwar in den vergangenen Jahren etwas verkürzten, aber immer noch sehr langen Fristen, die Festgenommene völlig von der Außenwelt isoliert werden können. Personen, die einer politischen Straftat verdächtigt werden, können ohne Anklage, ohne Haftbefehl und ohne Kontakt zu Anwälten, Angehörigen oder Ärzten bis zu vier Tage lang festgehalten werden. In den unter Ausnahmezustand stehenden Südostprovinzen können Verdächtige sogar bis zu zehn Tage festgehalten werden, bevor sich die Polizei um einen Haftbefehl bemühen muss. Türkische Menschenrechtsgruppen sprechen für 1999 von zwölf Fällen, in denen Menschen im Polizeigewahrsam ums Leben kamen. Mindestens noch einmal so viele Menschen wurden bei Polizeirazzien "versehentlich" oder weil sie wegzulaufen versuchten erschossen. 36 Personen, die sich im Gewahrsam der Polizei oder der paramilitärischen Gendarmerie befanden, sind nach Angaben von Menschenrechtsgruppen 1999 spurlos verschwunden.

Massive Menschenrechtsverletzungen gibt es vor allem im überwiegend kurdisch besiedelten Südosten der Türkei. Hier forderten die inzwischen deutlich zurückgegangenen Überfälle und Terroranschläge der PKK-Rebellen 1999 zwar weniger Opfer als in den Jahren zuvor, aber von einer Normalisierung oder gar einer politischen Lösung der Kurdenfrage ist man noch weit entfernt. In fünf Südostprovinzen gilt immer noch der 1987 verhängte Ausnahmezustand. Damit hat der dortige Regionalgouverneur sehr weitgehende Befugnisse. Er kann den Medien Restriktionen auferlegen, missliebige Personen deportieren lassen und sogar ganze Dörfer zwangsevakuieren.

Offiziellen Angaben der Regierung zufolge wurden bis Ende vergangenen Jahres 362 915 Bewohner aus 3 236 Dörfern zwangsevakuiert, um den PKK-Rebellen die Unterstützung zu entziehen. Nur 26 481 der Evakuierten wurden in andere Ortschaften umgesiedelt; die große Mehrheit, über 330 000 Menschen, blieben als Vertriebene im eigenen Land sich selbst überlassen. Doch diese Zahlen sind vermutlich noch viel zu tief gegriffen. Der US-Menschenrechtsbericht zitiert Beobachter, die von 800 000 bis zwei Millionen Vertriebenen sprechen.

Wer sich im Südosten für Demokratie und Bürgerrechte stark macht, riskiert Konflikte mit der Polizei und der Justiz. Die meisten Büros der türkischen Menschenrechts-Vereinigung IHD in der Kurdenregion bleiben auf Anordnung der Polizei und der Justiz geschlossen. Massiven Behinderungen sieht sich auch die pro-kurdische Demokratie-Partei des Volkes (Hadep) ausgesetzt, wie zuletzt die Festnahme dreier von ihr gestellter Bürgermeister zeigte. Gegen die Hadep läuft zur-zeit ein Verbotsverfahren, gegen Dutzende ihrer Funktionäre sind Strafprozesse anhängig, immer wieder werden die Büros der Partei durchsucht. Bei einer dieser Aktionen gegen das Hadep-Büro in Diyarbakir kam 1998 der 18-jährige Hamit Cakar ums Leben. Eine Autopsie ergab Blutergüsse und innere Verletzungen, die offenkundig von Schlägen herrührten.

Obwohl die türkische Verfassung in Artikel 34 ausdrücklich den Bürgern das Recht garantiert, friedliche Versammlungen und Demonstrationszüge ohne vorherige Genehmigung zu veranstalten, werden solche Proteste routinemäßig unterbunden. Vergangenen Monat wurden in Istanbul mehr als 200 Menschen festgenommen, weil sie gegen die Folter auf die Straße gehen wollten. Diese Woche nahm die Polizei, wieder in Istanbul, 30 Demonstranten fest, die mit dem Ausruf "Nein zur Atomkraft" durch die Stadt zogen. Und im Dezember 1999 wurden in Istanbul sechs Schulkinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren vor Gericht gestellt. Ihr Vergehen: Nachdem an ihrer Schule der Unterricht seit Tagen ausgefallen war, weil die Lehrer nicht zum Dienst erschienen, hatten die Kinder ein Plakat mit der Aufschrift "Wir wollen Lehrer" ausgerollt.

Die rechtlichen Strukturen in der Türkei, so heißt es in dem US-Bericht, gäben den Interessen des Staates Vorrang vor den individuellen Freiheitsrechten der Bürger. Damit wird das Staatsverständnis als der eigentliche Kern der türkischen Menschenrechtsprobleme benannt.

Wie es um die Grundrechte in der Türkei steht, zeigt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. 1999 wurden in Straßburg 18 Fälle verhandelt, in denen die Türkei angeklagt war. In allen 18 Fällen entschieden die Richter gegen Ankara und verurteilten die Türkei zur Zahlung von insgesamt rund drei Millionen Dollar