Aargauer Zeitung (CH), 7.3.2000

Auf dem Weg in die EU

Türkei: Auf wirtschaftlichem Gebiet Fortschritte gemacht

Birgit Cerha

In türkischen Wirtschaftskreisen herrscht grosse Zuversicht, während im Bereich der Demokratisierung Reformen vorerst an der Oberfläche bleiben. Experten sind sich einig, es wird viele Jahre dauern, bis die Türkei jenen Standard erreicht hat, den die Europäische Union für die Mitgliedschaft fordert. Der für den EU-Erweiterungsprozess zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen tritt morgen seine von Ankara dringend erwartete Reise in die Türkei an, um an Ort und Stelle Bilanz über die bisherigen Anpassungsbemühungen zu ziehen.

In Ankara gibt man sich sehr optimis-tisch. Im wirtschaftlichen Bereich, davon sind die Türken überzeugt, hätten sie schon lange viele EU-Forderungen erfüllt. Das mit dem Internationalen Währungsfonds als Basis für einen Beistandskredit von 4 Milliarden Dollar im Dezember vereinbarte Stabilisierungsprogramm macht tatsächlich ermutigende Fortschritte. Wiewohl die Inflationsrate seit Jahresbeginn stark in die Höhe schoss und fürchten lässt, dass die Türkei das bis Jahresende gesteckte Ziel von 25 Prozent (gegenüber 62,9 Prozent im Vorjahr) nicht erreichen könnte, ermutigen andere positive Entwicklungen. So hat sich die Regierung in ihrer Ausgabenpolitik deutlich zurückgehalten, während höhere Steuereinnahmen auf ein geringeres Defizit hoffen lassen. Auch begann man nun, den ins Stocken geratenen Privatisierungsprozess entschlossen anzupacken.

Mit der Privatisierung begonnen Ende der Vorwoche wurden 51 Prozent der Anteile am riesigen "Petrol Ofisis AS" (dem staatlichen Vertreiber von Ölprodukten) für 1,26 Milliarden Dollar verkauft. In einer raschen Privatisierung sehen Ökonomen den Schlüssel zum Abbau des drückenden Staatsdefizits. Präsident Demirel drängte dieser Tage energisch. Der Staat besitze immer noch Vermögenswerte von mehr als 100 Milliarden Dollar, die verkauft werden müssten. Die Regierung müsse sich voll aus "kommerziellen und industriellen Aktivitäten" zurückziehen. "Nur dann können wir auch die Korruption überwinden." Für dieses Jahr sollen Anteile in insgesamt 28 Staatsbetrieben mit einem geschätzten Wert von etwa 5,1 Milliarden Dollar verkauft werden. Das Parlament hat in den vergangenen Wochen eine Reihe von wichtigen Gesetzen verabschiedet, die in- und ausländischen Investoren grössere Sicherheit bieten sollten. Unterdessen setzt auch die Zentralbank entschlossen ihr neues Devisenprogramm durch, das zu einer langsamen De-facto-Abwertung der türkischen Lira führen soll.

Politikbereich hinkt nach Im politischen Bereich hat die Regierung bisher ihre Versprechungen nach Stärkung der demokratischen Institutionen, wie es die EU fordert, noch kaum in die Tat umgesetzt. Zwar hat das Kabinett Ecevit an alle Ministerien ein Liste mit ausführlichen Anordnungen gesandt, in welcher Weise die "Kopenhagener Kriterien" der EU zu erfüllen seien. Der Bericht enthält Vorschläge wie die Veränderung der Struktur des derzeit von den Militärs beherrschten "Nationalen Sicherheitsrates" (des höchsten Entscheidungsorgans), über ein neues Gesetz zur Stärkung gewerkschaftlicher Rechte von Staatsangestellten, bis zur grösseren Achtung der Rechte des Einzelnen und der Pressefreiheit. Zugleich führen Parlamentarier im Kampf um grössere Achtung der Menschenrechte wiederholt Inspektionen von Haftanstalten durch und entdeckten dabei diverse Foltereinrichtungen. Folter wird laut internationalen Menschenrechtsorganisationen in der Türkei bis heute systematisch angewendet. Wiewohl nach dem Gesetz verboten, werden die Täter meist nicht zur Verantwortung gezogen.

Anlass zu besonderer europäischer Sorge muss weiterhin die Behandlung der Kurden bilden. Wiewohl die Guerillaorganisation PKK der Gewalt abgeschworen hatte und entschlossen scheint, sich in eine demokratische Partei zu verwandeln, die mit politischen Mitteln kulturelle Rechte für dieses Volkes erringen will, hält Ankara unvermindert an seiner Repressionspolitik fest. So wurden im Februar drei im Vorjahr gewählte Bürgermeister der kurdischen "Volksdemokratie-Partei" (Hadep) unter dem Vorwand verhaftet, sie pflegten enge Beziehungen zur PKK. Zwar liessen die Behörden die Bürgermeister nach massiven internationalen Protesten wieder frei und gestatteten ihnen auch die Rückkehr zu ihren Ämtern. Doch sie müssen sich vor Gericht verantworten. Als Höchststrafe drohen ihnen sieben Jahre Gefängnis.

Noch viele Fronten verhärtet Es waren nicht nur die Verhaftungen selbst, sondern auch die brutale Vorgangsweise der paramilitärischen Polizei gegen die gewählten Stadtverwalter, die die demokratische Öffentlichkeit zutiefst irritierte und die Hoffnung dämpfte, die Türkei werde doch endlich einen friedlichen Weg zur Lösung des Kurdenproblems suchen. Unterricht in kurdischer Sprache bleibt nach wie vor verboten, ebenso kurdisches Radio und Fernsehen. Allerdings tolerieren die Behörden derzeit einige lokale kurdische Radiostationen.

Ebenso wenig vielversprechend sieht vorerst der Konflikt um die geteilte Mittelmeerinsel Zypern aus, der einem Beitritt der Türkei in die EU im Wege steht. Ungeachtet des verbesserten Verhältnisses zum historischen Rivalen Griechenland lassen sich auf Zypern keine Ansätze einer Aufweichung der harten Fronten erkennen.