Frankfurter Rundschau, 6.3.2000

Das Erdöl und der Terrorbogen

Die Sicherheitspolitik in Südkaukasien hat viele Gesichter

Von Karl Grobe (Berlin)

Das Erdöl rings ums Kaspische Meer ist weit vom Markt entfernt. Für Erdgas gilt dasselbe. Die Transportrouten führen durch politisch gespaltenes Gelände. Zum Beispiel nördlich und südlich des Kaukasus. Freilich, auf Öl-Politik darf man die Konflikte der Region, der Übergangszone zwischen Europa und Asien, nicht reduzieren, erläuterte Daniel Nelson, Professor am George C. Marshal-Zentrum für europäische Sicherheitsstudien. Das sei nicht mehr das Machtspiel von 1912 oder 1913, sagte er in Berlin auf einer Tagung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Und führte, ganz im Sinn des Veranstalters, den "Erweiterten Sicherheitsbegriff" ein, der neben Verteidigungs- und Außenpolitik wirtschaftliche, innenpolitische, staats- und völkerrechtliche sowie ökologische Aspekte enthält. Der jüngste Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) hat nach seiner Ansicht gezeigt, dass die Staaten der Region schwach sind und nichtstaatliche Akteure gewichtigere Rollen spielen, etwa bei den Auseinandersetzungen zwi- schen den verschiedenen Interessengruppen über Erdöl- und Erdgasleitungen. Um letztere gehe es; sie seien weit wichtiger als die Ölvorräte. Die sind, nach Darstellung des Geologen Hilmar Rempel, etwa so umfangreich wie die in der Nordsee, weniger als fünf Prozent der gesamten Weltvorräte, wobei die künftige Prospektierung noch einiges mehr finden kann.

In die Öl- und Gasfelder haben sich von den USA über Großbritannien und natürlich Russland bis hin nach China die Interessenten eingekauft. Und deren Interessen decken sich nicht. Was den Soziologen Ghia Nodia, Vorsitzenden des Kaukasischen Instituts für Frieden, Demokratie und Entwicklung, dann doch zu dem Schluss führt, dass die Staaten der Region sehr wohl entscheidende Mitspieler sind. Das sei eine Frage, der aktuellen Politik.

In nur zehn Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion haben die jungen Staaten sich selbst und ihre Interessen zu definieren gelernt, sagt Nodia, und Georgiens Botschafter Konstantin Gabaschwili nickt. Russland war gar nicht darauf vorbereitet, in Südkaukasien mit drei unabhängigen Staaten (Georgien, Armenien und Aserbaidschan) umgehen zu müssen. Es hat sie sehr zögernd als "nahes Ausland", aber eben Ausland akzeptiert - und auf seine eigenen Interessen nicht verzichtet. Die Türkei hegte eine Zeit lang pan-türkische Ambitionen, mit Blick auf die vier turksprachigen und islamischen Republiken in Mittelasien und vor allem auf Aserbaidschan. Die USA haben ihren Einfluss ausgebaut; ihnen ging es um mehrerlei: Ausbau und Sicherung der Transportwegefür die fossilen Energieträger; Isolation Irans; Sicherung der Verbindungen zu den Nachfolgestaaten der UdSSR. Schwächster Spieler aber sei die Europäische Union, die damit beschäftigt ist, sich über ihre Rolle klar zu werden.

Ja, die südkaukasischen Staaten seien schwach, sie sähen sich nach Beschützern um - vor Russland und nach Russland. Georgien und Aserbaidschan heischten Unterstützung im Westen; schon um den regionalen Separatismus (Abchasien, Berg-Kabach) abzuwehren, den manche gewissen Moskauer Aktivitäten zuschrieben. Armenien aber suche gerade Hilfe in Russland, das ihm zur Gerechtigkeit in der Karabach-Frage verhelfen solle, zudem auch Stützung gegen die Türkei geben könne, angesichts der historischen Belastung. Kurz: eine geopolitische Auseinandersetzung gehe vor sich.

Es versteht sich, dass der Leiter der Vierten Abteilung im Moskauer Außenministerium, Alexej Borodawkin, dieser Einschätzung nicht zustimmte. Seine Regierung bemühe sich um friedliche Konfliktlösungen; "Russland versucht sein Möglichstes". Die wichtigsten Aufgaben haben nach seiner Analyse Persönlichkeiten zu erfüllen - die Präsidenten Schewardnadse (Georgien), Alijew (Aserbaidschan) und Kotscharian (Armenien). Sie seien, wie er formulierte, stabilisierende Faktoren.

Die Grundprobleme in seiner Sicht: erstens die Eigenarten der Überganzszone zwischen Europa und Asien, Christentum und Islam, auch Russland und der Türkei. Zweitens die von den Bodenschätzen ausgehende Attraktion auf andere. Drittens die ethnische Vielfalt; auf beiden Seiten des Kaukasus leben über 120 verschiedene Völker. Viertens die Identitätssuche der neuen Staaten (was weder der Georgier Nodia noch der Armenier Aschot Manutscharjan so gelten lassen wollen: Ihre Staaten haben eine wesentlich ältere Geschichte als der russische Staat).

Der Terrorismus aber sei das Hauptproblem, sagte Borodawkin. Er dürfe nicht von Tschetschenien aus auf die Region überschwappen. Von Kirgisien bis zum Schwarzen Meer seien "Kräfte der Destabilisierung" am Werk. Nicht nur der tschetschenische Kommandant Schamil Bassajew sei ein Terrorist, deren gebe es viele, und hinter ihnen stünden finanzstarke Kräfte, die von einer fanatischen Ideologie geleitet würden. Es sei kein Zufall, dass im vorigen Jahr Anschläge auf die Präsidenten Kirgisiens, Usbekistans und Georgiens versucht worden seien - es bestehe ein Plan, die gesamte Region zu destabilisieren, eben das habe Präsident Wladimir Putin mit seinem Hinweis auf die "ernste Gefahr für die ganze Welt" gemeint.

Hüseyin Bagci von der TU Ankara, ein beredter Anwalt der Integration einer demokraischen Türkei in Europa, konterte mit dem Hinweis, nur Russland habe derzeit das Zeug dazu, Hegemon in der Region zu sein, die Türkei auch als Wirtschaftsmacht Nummer zehn und ihrer dynamisch gewordenen Gesellschaft hingegen nicht. Und EU und USA zögen nicht am gleichen Strang. Letztere, argumentierte Manutscharjan, hätten so etwas wie eine Vier-Stufen-Strategie: Iran zu isolieren; in der Region Einfluss zu gewinnen, unter anderem durch den politisch motivierten Bau der Pipeline Baku-Ceyhan; die Türkei "einzubauen"; Georgien einzubauen. Wozu die besagte Ölleitung von Aserbaidschan in die Türkei ein Mittel sei. Doch die Pipeline koste 500 Millionen Dollar mehr als die von Baku in den georgischen Schwarzmeerhafen Supsa. Was wiederum Bagci nicht sehr gefällt; denn noch mehr Tankerfahrten durch den Bosporus könne die Türkei nie zulassen.

Da schwingt der "engere Sicherheitsbegriff" mit: Wer schützt die Öl- und Erdgas-Rohre? Und vor wem? Ist etwa eine kurdische Autonomie in diesem Sinn eine Sicherheitsgarantie? Nein, sagte Bagci, Autonomie ist in der Türkei ein belasteter Begriff. Damit habe nach Ansicht vieler Türken vor 150 Jahren die Zerlegung des Osmanischen Reiches begonnen. Soll die kurdische Autonomie nun die Türkei spalten? Der Russe Borodawkin grinste.