Frankfurter Rundschau, 6.3.2000

Der Machtkampf in Iran hat erst begonnen

Nach dem Wahlsieg müssen die Reformer um Präsident Mohammed Khatami echte demokratische Veränderungen einleiten

Von Detlef Franke

Außenminister Joschka Fischer wird am heutigen Montag in Teheran zu Gesprächen mit Präsident Mohammed Khatami über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Iran zusammentreffen.

Nach dem überwältigenden Sieg der Reformkräfte bei den Wahlen vom 18. Februar in Iran, die im Parlament (Madschlis) bereits vor den noch ausstehenden Stichwahlen über eine Zweidrittelmehrheit verfügen, sieht sich der iranische Präsident Mohammed Khatami vor die schwierigste Ausgabe seiner Amtszeit gestellt. Das Faktum, dass nun Exekutive und Legislative in der Hand der Reformer sind, verpflichtet die Wahlsieger zum Handeln. Vorbei sind die Zeiten, da sich Zaudern und Zögern mit der Rücksichtnahme auf die Macht der Konservativen im schiitischen Gottesstaat Iran begründen ließen. Zwar besetzen die beharrenden Kräfte immer noch genügend Institutionen wie den Wächterrat und vor allem das mächtige Amt des Geistlichen Führers, dem Staatsfernsehen und -radio, Streitkräfte und Justiz unterstehen, um Reformen torpedieren zu können. Aber die Wähler, vor allem die Frauen und jene 60 Prozent der iranischen Bevölkerung, die unter 20 Jahre alt sind und den größten Teil ihres Lebens noch vor sich haben, erwarten eine spürbare politische Wende, demokratische Veränderungen und wirtschaftlichen Fortschritt. Die dringendsten Forderungen sind Abbau der vor allem in der Provinz, aber auch in den Städten gravierenden Arbeitslosigkeit, die offiziell 16 Prozent, inoffiziell aber bis zu 30 Prozent erreicht; Bekämpfung der weitverbreitenen Korruption; die Wiederankurbelung der durch Nepotismus darniederliegenden Wirtschaft; weitere Rückdrängung der Zensur; sowie Stärkung der Meinungs- und Pressefreiheit. Die Unabhängigkeit der Justiz, Einhaltung von Menschenrechten, Zulassung von politischen Parteien sowie eine Öffnung des islamistischen Landes nach außen sind weitere dringliche Maßnahmen, die die Reformer nun an die vorderste Stelle ihrer Prioritätenliste setzen müssen.

Doch Präsident Mohammed Khatami ist ein vorsichtiger Politiker und geschickter Taktierer. Er schlägt auch jetzt gegenüber den unterlegenen konservativen Klerikern versöhnliche Töne an. Reformen würden nicht auf Kosten der islamischen Prinzipien verwirklicht, die substanzieller Teil der iranischen Revolution seien, verspricht er seinen politischen Gegnern im Lande. Das mag ein gutes Stück Taktik sein, um die an ihrer schweren Wahlniederlage leidenden Konservativen nicht zu unüberlegten Reaktionen zu reizen.

Regierungschef Khatami wird nach Ansicht politischer Beobachter in Iran den behutsamen, aber zähen Kampf für eine zivilere Gesellschaft fortsetzen. Er wird auf die Einhaltung der Verfassung der Islamischen Republik Iran pochen und wie bisher die unabdingbare Umsetzung der Prinzipien des Rechtsstaats proklamieren. So ist etwa das Sondergericht für die Geistlichkeit, dessen Rechtsgrundlage bereits während des Verfahrens gegen den früheren Innenminister Abdullah Nuri von dem Angeklagten selbst in Frage gestellt wurde, eine extralegale, in der Verfassung nicht vorgesehene Institution.

Die eigentliche Aufgabe, die verkrusteten Machtverhältnisse in Iran aufzubrechen, steht den Reformern noch bevor. Das neue Parlament hat formal die Möglichkeit, die Zusammensetzung des zwölf Personen zählenden Wächterrates zu Gunsten der Reformkräfte zu verändern. Dann besteht eine realistische Chance, die Willkür dieser Institution zu beenden, die bei der Auswahl der Kandidaten für die Parlamentswahl stets versuchte, führende Köpfe des Reformlagers zu eliminieren, und zu deren Obliegenheiten es gehört, alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Islam zu überprüfen und so Veränderungen abblocken konnte.

Erst dann wird es möglich sein, auch den Expertenrat - eine weitere Machtbasis der Konservativen - neu zu besetzen und so Schritt für Schritt das undemokratische iranische System zu verändern. Fraglich bleibt, ob Mohammed Khatami, selbst ein Geistlicher und somit Teil des Systems, auch an die Grundlagen des Gottesstaates Hand anlegen wird. Das von Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeiny in der iranischen Revolution installierte Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten (velayat-e faqih) wird auch ein Khatami nicht antasten wollen und können. Trotzdem dürfte es sich in nicht allzu ferner Zukunft als notwendig erweisen, dass ein von der Geistlichkeit oder gar von der Bevölkerung gewählter Nachfolger des geistlichen Oberhaupts Ali Khamenei in Iran eine aufgeklärtere und demokratischere Staatsform installiert. Damit die iranische Bevölkerung ein weniger vom Staat reglementiertes Leben führen kann und bei einer stärkeren Trennung von Staat und Religion eine moderne Form des Islams entsteht, die im Wettbewerb mit anderen gesellschaftspolitischen Modellen konkurrieren kann.