Die Welt, 1.3.2000

Demokratie im Namen Allahs

Essay von Dietrich Alexander: Chomeinis Revolution, Chatamis Reform: Iran wird der islamischen Welt wieder zum Vorbild

Das Reformlager hat das iranische Parlament im Sturm erobert, die Revolutionshüter befinden sich im Niedergang. Die Mullahs haben nicht unwesentlich selbst dazu beigetragen. Dabei barg die islamische Revolution des Ayatollah Khomeini 1979 alle Ingredienzen einer islamischen Erfolgsgeschichte in sich. Der Wille, sich der korrupten Gewaltherrschaft des Schahs zu entledigen, hatte damals fast alle Bevölkerungsschichten und politischen Strömungen erfasst. Vom Iran ging eine neue Inspiration für die gesamte islamische Welt aus, eine Welle der Rückbesinnung auf die religiösen und sozialen Wurzeln. Überall formierten sich Gruppen, die im Gefolge des iranischen Beispiels ihr Heil in der reinen islamischen Lehre suchten.

Doch schon sehr bald zeigten sich die neuen iranischen Herrscher von ihrer bigotten und reaktionären Seite: Ihr Glaube an eine göttlich sanktionierte Politik führte zu einer Menschen verachtenden Herrschaft über ein Volk, das sie zwar an die Macht gespült, das sich nun jedoch der göttlichen Inspiration einer selbst ernannten Machtelite zu ergeben hatte. Das Mullah-Regime baute einen Repressionsapparat auf, der Kommunisten ebenso wie westlich orientierte Freigeister systematisch verfolgte und an Perfidie dem Schah-Regime in nichts nachstand.

Heute ist der Islamismus tot. Keines der drei Länder, in denen derzeit islamistische Regime an der Macht sind (Iran, Afghanistan, Sudan), kann heute ernsthaft als Vorbild für andere arabische Staaten herangezogen werden. Alle drei Versuche, einen Gottesstaat auf den Grundlagen der reinen Lehre zu etablieren, sind fehlgeschlagen. Die Machthaber regieren nicht im Namen der Bürger, sondern gegen sie, indem sie die Religion als Machtmittel missbrauchten und damit den Islam als Ganzes diskreditierten.

Im Iran verweigert die Machtelite den Menschen die Freiheiten, die für die Entfaltung einer Gesellschaft essenziell sind. Im Sudan knechtet die islamistische Führung des Spin-Doctors Hassan el Turabi den christlichen und animistischen Süden unter die Knute eines nicht mehr zeitgemäßen und äußerst rigide ausgelegten islamistischen Gesetzes, das mit "Scharia" zu bezeichnen den Islam ebenfalls in Verruf bringt. Und in Afghanistan schließlich terrorisieren fanatisierte "Gotteskrieger" das Land und unterdrücken ein freiheitsliebendes Volk mit den Mitteln einer instrumentalisierten Glaubenslehre.

Der Iran aber bricht jetzt aus dieser Phalanx aus, er befindet sich in einem rasanten Wandel. Längst haben die Menschen dort die "Segnungen" der Revolution entlarvt, sind selbstbewusster geworden, drängen mit der Kraft der Jugend zu Veränderungen, die das System infrage stellen. Insofern kann der Prozess im Iran - 21 Jahre nach der Revolution - erneut richtungweisend für die gesamte islamische Welt sein. Es muss sich nun erweisen, ob die Mullahs den Anforderungen einer modernen Gesellschaft gewachsen sind und die für ihr eigenes politisches Überleben wichtigen Reformen befördern oder ob sie sich auf einen selbstzerstörerischen Machtkampf einlassen wollen. Letzteres würde die Islamische Republik zerreißen. Ein Bürgerkrieg wäre unausweichlich.

Natürlich wird der Iran auch künftig kein areligiöses Staatsgebilde sein. Der Islam wird weiterhin elementarer Bestandteil aller Lebensbereiche der Menschen bleiben. Es stellt sich also die Frage, inwieweit der Islam mit Demokratie vereinbar ist und ob das Land auf so etwas wie eine islamische Demokratie zusteuert.

Bisher ist die islamische Welt einen Beweis ihrer Kompatibilität mit der Demokratie schuldig geblieben. Keiner der arabischen Staaten kann sich mit Fug und Recht demokratisch nennen. Gleichwohl ist im Islam Pluralismus nicht unbekannt. Schon in frühislamischer Zeit gab es die "Schura", die Spielart einer Ratsversammlung (Parlament). Es gibt auch keinen Klerus nach westlichem Verständnis. Der Imam (Vorbeter einer Glaubensgemeinde) sollte vielmehr Primus inter Pares sein. Dennoch ist es unrealistisch, in einem islamischen Land die Etablierung einer Demokratie westlichen Zuschnitts zu erwarten. Denn dies setzte die Trennung von Politik und Religion voraus, was nach islamischem Verständnis unmöglich ist. Dass Mustafa Kemal "Atatürk" dies dennoch versuchte, beschert der Türkei heute das Problem, teilweise mit rechtsstaatlich bedenklichen Mitteln die Islamisten von der Macht fern halten zu müssen. Die Türkei ist ein islamisches Land, der staatlich verordnete Säkularismus seiner Bevölkerung eigentlich fremd.

Im Iran unternimmt Präsident Chatami den ernsthaften Versuch, eine Regierungsform zu etablieren, die religiös orientiert ist, aber zugleich dem Volk genug Raum für die persönliche Entfaltung bietet. Es wird Reformen geben. Die Frage ist nur, wie weit sie gehen werden.

Schon heute ist der Iran offener, als er es vor drei Jahren zum Zeitpunkt der Amtsübernahme Chatamis war. Die Reformer wollen die iranische Verfassung neu interpretieren und damit demokratisieren, sie denken das Undenkbare. Die Metamorphose des Irans vollzieht sich langsam, aber stetig. Das konservative Establishment ficht seine Rückzugsgefechte in den Gerichten und Moscheen - es ist ein Kampf gegen die Zeit, und er ist chancenlos.

Die arabischen Völker verfolgen die Entwicklung im Iran sehr genau. Gelingt das iranische Experiment, kann das Land die ideologische Vormachtstellung, die es schon immer anstrebte, untermauern. Die Strahlkraft in die gesamte islamische Welt wird ihre Wirkung nicht verfehlen - genau wie 1979, nur in eine ganz andere Richtung.