Frankfurter Rundschau, 24.2.2000

Häftlingstod soll gesühnt werden

Im Blickpunkt: Prozess in der Türkei

Von Gerd Höhler (Athen)

Am 24. September vergangenen Jahres haben Spezialeinheiten der türkischen Gendarmerie eine Häftlingsrevolte im Ulucanlar-Gefängnis in Ankara blutig niedergeschlagen. Zehn Gefangene wurden getötet. Jetzt soll ihr Tod gesühnt werden. 86 Angeklagte kommen vor Gericht - aber nicht Sicherheitsbeamte, sondern Mitgefangene der Opfer.

Was sich an jenem Sonntagmorgen in der Haftanstalt wirklich zutrug, ist strittig. Bei den rebellierenden Häftlingen handelte es sich um ehemalige Mitglieder linksextremer Untergrundgruppen, viele von ihnen verurteilt wegen Mord- und Terroranschlägen. Nach einer damaligen Darstellung des Justizministeriums versuchten die mit Pistolen, Messern und Brandflaschen bewaffneten Gefangenen, eine Durchsuchung ihrer Gemeinschaftszellen und die geplante Verlegung von 30 Häftlingen in eine andere Anstalt zu verhindern. Außerdem hätten die Gefangenen versucht, einen Fluchttunnel zu graben. Paramilitärische Gendarmerie stürmte schließlich den Zellentrakt. Dabei wurden zehn Gefangene getötet, 24 weitere und sechs Polizisten verletzt. Diese Woche nun sollten sich 86 Gefangene wegen des Todes ihrer Mithäftlinge vor einem Schwurgericht in Ankara verantworten. Doch die Richter erklärten sich für nicht zuständig und verwiesen das Verfahren an das Staatssicherheitsgericht Ankara, das für "Terrorakte gegen den Staat" zuständig ist. Die Staatsanwälte wollen ihre Strafanträge nun verschärfen. Für vier der Angeklagen würden sie die Todesstrafe beantragen, für andere fünfzehnjährige Haft. Wann das Verfahren beginnt, ist noch offen.

Die 86 Angeklagten weisen die Anklage weit von sich. Ihre Verteidiger erheben den Vorwurf, Sicherheitskräfte und Staatsanwaltschaft versuchten, die wahren Vorgänge vom 24. September zu vertuschen. Die zehn Opfer der Revolte seien von der Gendarmerie bei deren Sturm auf den Zellentrakt erschossen und erschlagen worden. Diesen Vorwurf erhebt auch die türkische Menschenrechtsvereinigung IHD. Sie beschuldigt die Sicherheitskräfte, im Ulucanler-Gefängnis ein "Massaker" angerichtet und die zehn Häftlinge "barbarisch getötet" zu haben.

Noch haben die Staatsanwälte ihre Version der Vorgänge nicht im Detail präsentiert. Doch selbst wenn die zehn Gefangenen von Mithäftlingen getötet worden wären, wie die Anklage behauptet, träfe den Staat eine erhebliche Mitverantwortung, denn er duldet in den Gefängnissen wahrhaft anarchische Zustände. Immer wieder kommt es in den Haftanstalten mit ihren rund 70 000 Insassen, von denen etwa 10 000 wegen politisch motivierter Straftaten einsitzen, zu Unruhen und Revolten. Ganze Gebäudetrakte werden faktisch von den Häftlingen beherrscht. Sie sind überwiegend in großen Gemeinschaftszellen zu hundert und mehr Personen untergebracht. Auch die gemeinsame Inhaftierung politischer Gesinnungsgenossen leistet immer wieder organisierten Revolten Vorschub. Schusswaffen und Messer gibt es in fast allen Gemeinschaftszellen. Brutale Übergriffe des Vollzugspersonals und Misshandlungen Gefangener sind an der Tagesordnung, ebenso Geiselnahmen und Messerstechereien rivalisierender Häftlingsgruppen. Zwei Wochen vor der Revolte von Ankara waren in einem Istanbuler Gefängnis bei einem solchen Bandenkampf sechs Häftlinge von Mitgefangenen getötet worden.