junge Welt, 23.2.2000

»Robuste« Kriegsführung

Irak: Bomben auf Schafe, unbekannte Krankheiten - die Folgen von Krieg und Sanktionen.

Augenzeugenbericht von Felicity Arbuthnot

*** Felicity Arbuthnot lebt als freie Journalistin mit den Themenschwerpunkten Sozial- und Umweltpolitik in Großbritannien. Seit dem Ende des Golfkrieges hat sie viele Male den Irak besucht und über die Situation dort berichtet. Dafür wurde sie mit dem EC Lorenzo Natalie Award für Menschenrechtsjournalismus ausgezeichnet. Der folgende Bericht, in dem sie auch schildert, warum sie sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, entstand, nachdem sie von ihrem 18. Besuch nach Großbritannien zurückgekehrte. ***

Wie viele andere habe ich mich an der Opposition gegen den Golfkrieg beteiligt. Ich wußte, daß es in diesem Krieg wie bei dem Krieg in Jugoslawien um die strategischen Interessen der westlichen Mächte ging und nicht um Saddam Hussein oder »das kleine Kuwait«. Als der Krieg zu Ende war, dachte ich: Wir haben unser Bestes getan und haben keinen Erfolg gehabt. Jetzt wird der Wiederaufbau des Landes beginnen.

Einige Monate später besuchte ich eine Pressekonferenz von Magne Raundlen, einem norwegischen Professor für Kinderpsychologie, und Eric Hoskins, einem kanadischen Experten für das öffentliche Gesundheitswesen, zur Traumatisierung von Kindern im Irak. Sie waren die ersten, die darüber berichteten, was im Irak tatsächlich vor sich ging. Es wurde nichts getan, um dem Land zu helfen, und so fühlte ich mich verpflichtet, in den Irak zu fahren und mir die Lage selbst anzusehen. Eine Woche später war ich in Bagdad, was ich dort sah, schockierte mich. Irak war ein Land, das, wie der amerikanische Außenminister James Baker es angedroht hatte, buchstäblich in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgeworfen worden war. Ein Land, das in hohem Maße von moderner Technologie abhängig war, wurde dem völligen Niedergang überlassen. Das Einzigartige daran war die Tatsache, daß dies im Namen der Völker der Vereinten Nationen getan worden war.

Das Embargo tötet

Seit dem Golfkrieg habe ich den Irak 18mal besucht. Ich bin jedesmal von Neuem über den Niedergang des Landes erschrocken. Jedesmal gibt es neue grauenhafte Dinge. Im März 1999 war es die tägliche Bombardierung der Infrastruktur. Es gab praktisch keine Elektrizität mehr. Viele Leute können sich keine Kerzen leisten und verwenden behelfsmäßige Lampen. Sie stecken einen Lumpen in eine Flasche mit Öl; solche Flaschen platzen dann häufig. Dadurch erzeugte Verletzungen haben rasend zugenommen. Die Verbrennungen sind furchtbar, und es gibt keine Möglichkeit, sie zu behandeln. Es gibt nicht einmal Haftfilm als Notmaßnahme zur Schließung der Wunden. Es gibt keine Schmerzmittel und keine plastische Chirurgie.

Ich bemerkte noch zwei andere Dinge. Wie bei jedem anderen Embargo der Geschichte gibt es auch im Irak ein gewisses Maß an Kriegsgewinnlerei mit Geldgeschäften. Es gibt einen kleinen Teil der Bevölkerung an der Spitze des Regimes mit Familienangehörigen im Ausland, die Dollars schicken. Neue Restaurants werden eröffnet. Man kann beispielsweise Sonnenbrillen von Christian Dior und überhaupt absolut alles bekommen. Aber für 98 Prozent der Bevölkerung gibt es nicht einmal die Möglichkeit, Verbrennungen zu sterilisieren.

Das andere, was mich sehr stark berührte, war der mentale Zusammenbruch dieses tapferen Volkes. Sie haben das Gefühl, daß ihre Qualen niemals wieder aufhören werden. Und doch waren sie so besorgt um mich, als ich während meiner Reise krank wurde. Ich war in der Eingangshalle meines Hotels in Mossul zusammengebrochen. Mein Dolmetscher und mein Taxifahrer kamen immer wieder in mein Zimmer, befühlten meinen Kopf und fragten: »Geht es Ihnen wieder gut? Sollen wir einen Arzt holen?« Sie sagten: »Sie kommen immer wieder hierher, und jetzt hat der Irak sie so krank gemacht.«

Ich war 18 Stunden lang abwechselnd bei Bewußtsein und bewußtlos. Ich weiß nicht, was die Ursache war. Ich vermute, daß die Luft im Irak vergiftet ist. Die Kollegin, mit der ich reiste, war ebenfalls krank. Das eine Mal war sie krank, und ich machte die Interviews, und am nächsten Tag machte sie dann die Interviews für mich. Wir suchten kein Krankenhaus auf, weil wir der Meinung waren, daß wir damit anderen Leuten kostbare Medizin wegnehmen würden, und so quälten wir uns weiter. Es war ein Alptraum. Die Leute entschuldigten sich immer wieder bei uns, weil der Irak, wo sie gezwungen sind zu leben, uns krank gemacht hatte.

Beeindruckt war ich auch von der Art und Weise, wie im Irak ein Todesfall verkündet wird. Sie haben dort diese »Todesanzeigen«, die sie Naie nennen. Sie nehmen ein großes Stück schwarzen Musselins und schreiben mit weißer Farbe Alter und Todesursache darauf. Dann schreiben sie den Namen in hellem Gelb. Sie hängen eins davon vor das Haus des Verstorbenen und ein weiteres an den Ort, an dem die Person gestorben ist. Im März sah man, wenn man einen ganzen Tag lang umherfuhr, vielleicht zwei von diesen Naie. Dieses Mal habe ich allein in den dreizehn Blocks eines Viertels in Bagdad 18 gezählt. Es wurde zu einer Gewohnheit, sie zu zählen. An einem winzigen Platz hingen drei davon an einer Wand - eine ganze Familie war gestorben -, und an der Wand gegenüber hing ein weiteres.

Der Irak befindet sich jetzt mehr oder weniger seit 20 Jahren im Krieg, nämlich seit Beginn des Iran-Irak-Krieges. Es ist ein Land, das seit zehn Jahren hungert. Die Ärzte sagen, daß immer mehr Menschen sterben, besonders junge Männer im Alter zwischen 30 und 35. Das sind die jungen Männer, die ihre gesamte Zeit als Erwachsene unter dem Embargo gelebt haben. Jetzt sehen sie die Mitte des Lebens auf sich zukommen, und sie geben einfach auf und sterben.

Mossul befindet sich in der »Flugverbotszone«. Was für eine Fehlbenennung. Die Briten und die Amerikaner bombardieren dort an jedem einzelnen Tag des Jahres - abgesehen von einer zweiwöchigen Pause im März und einer Pause von vier Tagen im Mai. An einem Tag wurden 100 Einsätze geflogen. Nachts kann man wegen des Lärms der Flugabwehrgeschütze nicht schlafen. Ich war in die Gegend von Mossul gegangen, weil ich gehört hatte, daß dort Schafherden bombardiert würden. Freunde aus dem Nahen Osten hatten mir erzählt, daß das mittlerweile zu einer Art Zielübung für die Piloten geworden ist. Mossul beherbergt die größte Zahl an Christen im Irak. Es gibt dort christliche Klöster und wunderbare Gebäude.

Ich machte mich auf, um die Schafherden zu suchen, und fand mitten in der Ebene in einer gottverlassenen Gegend eine solche Herde, die am 13. April 1999 bombardiert worden war. Wir gingen mit in das Dorf, wo die Familie der Schäfer wohnte. Ein winzigkleines Dorf von Christen und Muslimen, in dem es keine Ölinstallationen und kein Militär gab. Diese Menschen hatten seit Jahrhunderten in einer gemischten Gesellschaft von Christen und Muslimen zusammengelebt.

Das Bombardement fand an einem Freitag (dem muslimischen Sonntag) statt. An einem Tag, an dem es sehr heiß war. Die Herde umfaßte 105 Schafe und Böcke. Etwa 50 Leute waren mit den Schäfern hinunter in die Ebene gestiegen. Am frühen Morgen, bevor es heiß wurde, feierten sie eine Art Sonntagszeremonie, bei der es zu Essen und zu Trinken gab. Dann gingen die Dörfler allmählich wieder nach Hause, während die sechsköpfige Schäferfamilie zurückblieb: der 60jährige Großvater, der 37jährige Vater und die vier Kinder, darunter als jüngstes ein sechsjähriger Junge. Während sie fortgingen, hörten die Dörfler ein Flugzeug in der Luft kreisen. Es kreiste dort ungefähr drei Stunden, und die Dörfler lauschten aufmerksam, weil die Gegend schon so oft bombardiert worden war. Dann hörten sie das Bombardement und rannten zurück, um zu sehen, ob jemand Hilfe braucht. Sie suchten den ganzen Tag lang, und bis Einbruch der Nacht konnten sie lediglich genügend Reste von der Familie finden, um sie in zwei - statt in sechs - Gräbern zu bestatten. Sie konnten den Torso des alten Mannes identifizieren. Das war alles, was sie fanden. Sein Kopf, seine Arme, seine Beine waren abgerissen worden.

Krieg gegen Dörfer

Der sechsjährige Junge, Soultan, hatte gerade die zweite Klasse in der Schule beendet. Er hatte sehr gute Noten und war sehr stolz darauf gewesen. Im Irak gibt es immer noch eine große Begeisterung und Leidenschaft für Kultur und Bildung. Er hatte einen Kugelschreiber und ein Stück Papier (beides von den UN mit Embargo belegt) mit hinunter ins Feld zu den Schafen genommen, um Schreiben und Rechnen zu üben. Die Dorfbewohner konnten nicht den kleinsten Fetzen mehr von ihm finden. Einer seiner Verwandten sah mich an und griff nach meinem Notizbuch. Es war ein sehr persönlicher Augenblick - dieser Verwandte war fast so eine Art »Zeuge«. Er sagte: »Ich muß schreiben, nicht Sie. Ich muß ihre Namen in ihr Buch schreiben.« Seine Hand zitterte, Tränen standen ihm im Gesicht. Als er den Namen des kleinen Jungen hinschrieb, fragte er: »Was wollen die denn von uns? Er hatte doch nicht mehr als seinen Kuli. Ist es das, was sie wollten?«

Dieses Gebiet liegt in der Mitte einer großen, von Bergen umgebenen Ebene, in deren Nähe es das kleine Dorf gibt. Die Schafe müssen dort klar und deutlich zu sehen gewesen sein. Die Familie hatte einen roten Traktor und einen zerbeulten weißen Toyota-Kleinlaster dabei, auf dem ein Wasserfaß für die Schafe war. All das muß sehr deutlich sichtbar gewesen sein.

Ich sprach mit einem Dominikanerpriester, der aus dem Libanon stammte. Er war 60 Jahre alt, akademisch und gemäßigt. Er schäumte vor Wut. Er sagte mir, die Iraker seien ein sehr moralisches Volk, jetzt seien ihnen nur noch ihr Anstand und ihre Würde geblieben. Er sagte: »Kurz bevor Sie ankamen, wurden 24 Menschen in einem christlichen Dorf, einer kleinen ländlichen Gemeinschaft, die ausschließlich von ihrer Landwirtschaft lebte, von einer amerikanischen Bombe getötet. Es sind die Amerikaner und die Briten, die das machen.«

Das hörte ich immer wieder. »Die Flugzeuge fliegen meistens von den türkischen Stützpunkten los«, fuhr mein Gesprächspartner fort. »In den westlichen Medien lesen wir immer, hier würden legitime Ziele - wie Radarstationen zur Observierung - bombardiert. Warum sagen sie nicht, daß sie einfach um des Bombardierens willen bombardieren, wo das doch deutlich zu sehen ist? Jeden Tag verlieren Mütter ihre Kinder, Kinder verlieren ihre Mütter und Väter, Brüder verlieren ihre Schwestern und Schwestern ihre Brüder. Das ist der Preis der Bombardierungen.«

Er machte auf einen interessanten Punkt aufmerksam, über den weder das britische Verteidigungsministerium noch die Amerikaner reden wollen. Er sagte: »Sie bombardieren aus einer Höhe von fünfzehn Kilometern, aber unsere Luftabwehrkanonen haben nur eine Reichweite von fünf Kilometern. Wie können wir sie da bedrohen?«

Ich rief beim Verteidigungsministerium an und sagte: »Ich bin gerade aus dem Irak zurückgekommen und habe dort Beweise dafür gesehen, daß Sie Schafe bombardieren. Möchten Sie dazu einen Kommentar abgeben?« Der Sprecher des Ministeriums antwortete: »Wir behalten uns das Recht auf robuste Aktionen vor, wann immer wir bedroht werden.« Ich fragte »Gegen Schafe?« Dann gab ich auf und legte den Hörer auf. Eine weitere Frage, die gestellt werden muß, ist, ob im Irak weiterhin Bomben mit abgereichertem Uran eingesetzt werden. Ich sah mich am Bombardierungsort um, aber ich fand kaum Teile des Traktors und gar keine von der Bombe.

Die Verwandten erzählten mir, die Behörden hätten die Bombentrümmer mitgenommen. Sie meinten, es habe sich um eine 500-Pfund-Bombe gehandelt, der Krater schien das zu bestätigen. Aber ich konnte keine Aussage darüber erhalten, um was für einen Bombentyp es sich gehandelt hatte. Der oberste Sprecher des irakischen Verteidigungsministeriums sagte: »Wir geben überhaupt keine Informationen über das Bombardement heraus, bevor wir nicht hundertprozentig sicher sind, weil alles, was wir sagen, von der westlichen Presse und den Vereinten Nationen dementiert wird«. Meiner Erfahrung nach ist das vollkommen richtig.

Ich fragte das Verteidigungsministerium in Großbritannien, ob Raketen mit abgereichertem Uran im Nordirak eingesetzt würden, aber das Ministerium weigerte sich, einen Kommentar abzugeben. Ich fragte, ob man solche Waffen auch in Jugoslawien einsetze, und ob wir demnächst die Ergebnisse in Form von angeborenen Mißbildungen und Krebs sehen würden wie im Irak? Werden wir eine Neuauflage des Golkriegssyndroms erleben, jetzt, wo Soldaten am Boden eingesetzt würden? Er antwortete: »Unsere Truppen haben die strikte Order, die vom Minister für bewaffnete Streitkräfte Douglas Henderson an alle hohen Offiziere übermittelt wurde, daß keiner unserer Soldaten sich irgend etwas nähern darf, das mit abgereichertem Uran getroffen worden sein könnte - ausgebrannte Panzer oder was sonst - absolut und unter keinen Umständen. Und wenn dies doch unvermeidlich sein sollte, müssen sie mit speziellen Instruktionen, spezieller Schutzkleidung und speziellen Atemgeräten ausgestattet werden.«

Ich sagte - und das gilt natürlich sowohl für den Irak als auch für Jugoslawien: »Entschuldigen Sie, aber was ist mit den Leuten, die dort leben? Was ist mit den Flüchtlingen?« Er wollte höchstens über Jugoslawien sprechen und sagte dazu: »Darum muß sich das UNHCR kümmern.« Also fragte ich, ob das UN-Flüchtlingshilfswerk informiert worden sei. Das wußte er nicht, und es ist mir bisher nicht gelungen, mit jemandem zu sprechen, der es wußte.

Zerstörte Ernten

Eine der Fragen, die ich sowohl im Westen als auch im Irak gestellt habe, ist die, weshalb Schafe bombardiert werden, und ich kann mir immer noch keinen Reim darauf machen. Es erscheint so verrückt, zugleich frage ich mich, ob sie lediglich Zielübungen veranstalten oder ob sie die Nahrungskette zerstören wollen. Für diese auf dem Land wohnenden Menschen sind die Schafe, die Gerste und der Weizen, die sie produzieren, alles, was sie haben. Das ist nicht viel, und nichts davon wird vergeudet. Sie essen das Fleisch und verkaufen den Überschuß. Sie verwenden das Leder. Sie verwenden die Wolle. Jeder einzelne Teil eines Schafes wird nutzbar gemacht. Sie kochen die Knochen, um Suppe, Gelatine und Konservierungsmittel daraus zu machen. Das ist alles, was sie haben.

Nach dem Golfkrieg gab es sogar bei den Datteln eine Mißernte. Die Datteln sind normalerweise einfach da. Sie sitzen oben auf Palmbäumen und wachsen. Sie werden nicht besprüht oder gedüngt. Aber es hat in den letzten fünf Jahren keine Dattelernte mehr gegeben. Die Dattelernte ist im Irak normalerweise eine große Sache. Es gibt dort annähernd 600 verschiedene Arten von Datteln. Der Irak war der größte Dattelexporteur der Welt. Aber der Golfkrieg hat die Dattelernten für Jahre zunichte gemacht.

Seit dieser Zeit hat es im Irak auch eine Spulwurmepidemie und die Maul- und Klauenseuche gegeben, die normalerweise in diesem Land nicht vorkommen. Inzwischen gibt es auch Berichte über Heuschrecken, die es dort sonst ebenfalls nicht gibt. Es ist schwer herauszufinden, was dort vor sich geht, aber soviel ist sicher, daß es in der Landwirtschaft quer durch Flora und Fauna alle möglichen Krankheiten gibt, die im Irak zuvor gänzlich unbekannt waren.