Berliner Zeitung, 23.2.2000

Kommentar

Der Machtkampf in der türkischen Regierung

von Sigrid Averesch

Für die türkischen Sicherheitskräfte in Südostanatolien war der Einsatz nicht ungewöhnlich. Am Wochenende verhaftete die Polizei die kurdischen Bürgermeister der Städte Diyarbakir, Siirt und Bingöl unter dem Verdacht, Kontakte zur verbotenen PKK zu haben. Doch diesmal stieß die Festnahme der Provinzpolitiker, die der pro-kurdischen Demokratie-Partei des Volkes, der Hadep, angehören, auf harsche Reaktionen aus Europa.

Am Dienstag forderte die Europäische Union die Freilassung der Kurden. Auf Initiative des deutschen Außenministers Joschka Fischer werde die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft in Ankara vorstellig werden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Noch am gestrigen Vormittag telefonierte der deutsche Außenminister mit seinem türkischen Amtskollegen Ismail Cem und setzte sich für die Freilassung der Kurden ein. Deren Festnahme sei ein "völlig falsches Signal" auf dem Weg der Türkei nach Europa, ließ Fischer wissen. Auch der Europarat, dem die Türkei angehört, werde sich mit dem Vorfall befassen, kündigte Wolfgang Behrendt, der Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, an.

Europa beginnt zu kritisieren

Zum ersten Mal seit dem Beschluss von Helsinki, mit dem die Türkei Ende des vergangenen Jahres zum EU-Beitrittskandidaten avancierte, gibt es einen offenen Dissens zwischen Ankara und den europäischen Regierungen. Bislang waren in deutschen Regierungskreisen verschiedene Schritte der türkischen Regierung "als positive Entwicklung" vermerkt worden. Darunter fällt der Beschluss, bei der Entscheidung über das Schicksal des PKK-Führers Abdullah Öcalan das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes abzuwarten, und eine Vorlage an die Regierung, in der auch die Aufhebung des Ausnahmezustandes in Südostanatolien empfohlen wird. Die Polizeiaktion dagegen erschüttert das Vertrauen in die Absichten und Versprechungen der türkischen Regierung. Als "Rückschlag" wertet Europa-Politiker Behrendt die Festnahme "von rechtmäßig gewählten Bürgermeistern".

Besorgt wird in Europa zur Kenntnis genommen, dass der Polizei-Einsatz offenbar darauf zielt, nach dem Ende der militärischen Konfrontation mit der PKK die gesamte Kurdenbewegung zu zerschlagen. Von der Lösung der Kurdenfrage aber wird abhängen, ob die Türkei in die EU aufgenommen wird.

Der Polizeieinsatz in Ostanatolien diente den europa-kritischen Kräften dazu, den Kurs der Regierung in Ankara zu konterkarieren. Während führende Vertreter der türkischen Regierung nicht müßig werden, die Bemühungen Ankaras um Fortschritte bei den Menschenrechten und der Anerkennung der kurdischen Minderheit zu betonen, zeigten die türkischen Sicherheitskräfte, dass ihnen genau daran nichts liegt.

Türkische Ankündigungspolitik

Es ist nicht das erste Mal, dass die Falken im türkischen Staatsapparat versuchen, den Europa-Kurs zu behindern, wenn nicht gar zu verhindern. So hatte erst jüngst Außenminister Cem Ermittlungen wegen des Vorwurfs des "Separatismus" gegen sich laufen, weil er sich für die Anerkennung der kurdischen Sprache eingesetzt hatte. Das Verfahren wurde inzwischen von der Generalstaatsanwaltschaft eingestellt.

In Erinnerung ist auch noch, wie im vergangenen Jahr Ministerpräsident Bülent Ecevit den deutschen Außenminister bei seinem Besuch brüskierte, als er die Verhaftung eines in Deutschland lebenden mutmaßlichen PKK-Mitglieds verkündete. Oder wie Ecevit nach dem Helsinki-Beschluss in seinem Land die Hoffnung schürte, die Türkei könne in ein bis zwei Jahren EU-Mitglied werden, wohl wissend, dass dieser Zeitplan unrealistisch ist. Noch ist unklar, wer den Machtkampf in Ankara gewinnt.

Wolfgang Behrendt beurteilt die Vorgänge skeptisch. "Im Moment macht die türkische Regierung nichts als Ankündigungspolitik." Behrendt verweist darauf, dass im Europarat noch immer das Monotoring-Verfahren, eine Überprüfung der Türkei hinsichtlich der Verwirklichung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit läuft. Es liege einzig und allein an der Türkei, diese Kriterien zu erfüllen, sagt Behrendt.

Davon ist Ankara jedoch noch weit entfernt. Das zeigt nicht nur der Umgang mit der kurdischen Minderheit und mit PKK-Führer Abdullah Öcalan, dem von heute an ein zweiter Prozess gemacht wird. Erst vor gut einer Woche wurden in Istanbul über 200 Demonstranten verhaftet, die die Einhaltung der Menschenrechte forderten. Die Türkei hat noch einen weiten Weg nach Europa vor sich.