Frankfurter Rundschau, 22.2.2000

"Unsere Städte sind verwüstet"

Im Wortlaut: Kurdische Erklärung

Kurz nach ihrer Rückkehr in die Türkei von einer Konferenz über Stadtentwicklung in Hannover sind drei von sechs kurdischen Bürgermeistern in der Südosttürkei verhaftet worden. Es handelt sich um Feridun Celik, Selim Ozalp und Feyzullah Karaarslan, die Stadtoberhäupter von Diyarbakir, Siirt und Bingöl. Sie erörterten auf Einladung der Gesellschaft für bedrohte Völker mit europäischen Fachleuten, wie sie ihrer Region helfen könnten. Die FR veröffentlicht Auszüge ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung.

"Wir (...) sind dieser Einladung gefolgt, da wir Partner beim Wiederaufbau unserer Heimat suchen, die während der letzten 15 Jahre verwüstet wurde. Zugleich wollen wir damit einen Beitrag zur Integration der Türkei in die Europäische Union leisten. Denn viele Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel können nur auf kommunaler Ebene überwunden werden (...) Der bewaffnete Konflikt zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der türkischen Armee hat unendliches Leid über die ganze Bevölkerung der Türkei gebracht. Wie eine Untersuchung des Parlaments 1997 festgestellt hat, wurden im Südosten mehr als 3428 Dörfer zerstört. Mehr als 35 000 Menschen, Türken und Kurden, wurden getötet. Viele von ihnen waren Zivilisten. Mehr als 2,5 Millionen Dorfbewohner mussten fliehen oder wurden getötet. Durch Flucht und Vertreibung hat sich die Bevölkerung in unseren Städten binnen weniger Jahr verdoppelt und verdreifacht (...) Noch heute müssen viele Flüchtlinge in Notunterkünften hausen. Die Arbeitslosigkeit beträgt über 50 Prozent. Seit letztem Jahr gelten die Kämpfe als beendet. Doch ein Waffenstillstand ist noch kein Frieden. Wahrer Frieden ist nicht möglich ohne Versöhnung und die Herstellung von Gerechtigkeit (...) Wir wünschen uns, dass unsere zerstörte Region wirtschaftlich, sozial und politisch entwickelt wird. Wir fordern, dass der Ausnahmezustand in allen Provinzen der Südosttürkei aufgehoben wird. Alle Flüchtlinge haben das Recht auf Rückkehr und Wiederherstellung ihres Eigentums (...) Bei der Entwicklung unserer Städte und Provinzen wollen wir nicht die Fehler wiederholen, die in den letzten 50 Jahren in vielen anderen Ländern begangen wurden. Große Infrastrukturprojekte sollen sozial und ökologische verträglich sein. Sie müssen die Lebensbedingungen der ganzen Bevölkerung verbessern (...) Es fehlt bei uns an guten Schulen und an einem funktionierenden Gesundheitswesen. Wir wollen den öffentlichen Verkehr fördern und erneuerbaren Engergiequellen den Vorzug geben (...) Wir bitten um Unterstützung beim Aufbau unabhängiger Medien und Nichtregierungsorganisationen, die demokratischen Idealen verpflichtet sind. Zugleich rufen wir die türkische Regierung dazu auf, die Verbote friedlicher kurdischer Institutionen aufzuheben. Der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache darf nicht länger eingeschränkt werden. Auch andere ethnische und religiöse Minderheiten, die in der Vergangenheit verfolgt wurden, sollen sich frei entfalten können (...)

Immer wieder werden wir Bürgermeister gerade in den Bereichen zum Sparen gezwungen, die für eine funktionstüchtige Stadtverwaltung unerlässlich sind. Diese Zustände sind zutiefst undemokratisch und widersprechen europäischen Ideen von lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Die Türkei soll auf kommunaler Ebene endlich EU-Maßstäbe einführen.

Wir verlangen die Abschaffung der Todesstrafe im Strafgesetzbuch. Wir fordern die Ausmerzung der Folter in allen Haftanstalten und Polizeistationen sowie Amnestie für alle Gefangenen, die aus rein politischen Gründen verurteilt wurden. Wer aber schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, der soll ungeachten seiner ethnischen Zugehörigkeit und sozialen Stellung mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt werden (...) Zusammen mit allen demokratisch gesinnten Kräften in der Türkei und in ganz Europa möchten wir an einer menschenwürdigen Zukunft bauen."