Tagesspiegel, 21.2.2000

Irak und das UN-Embargo
"Ich möchte sterben" - die Iraker leiden unter den Sanktionen - ein deutscher Diplomat protestiert

Carola Reissland

Wadia Mahdi thront hinter einem kleinen Tresen direkt neben dem Eingang des Restaurants. Alle Besucher müssen an Wadia vorbei, wenn sie eintreten ins "Shatt-al-Furat", zu deutsch etwa "Zum Euphrat". Und natürlich auch, wenn sie wieder gehen. Dann aber nicht, ohne Wadia dicke Bündel von irakischen 250-Dinar-Scheinen zu überreichen. Im "Furat" gibt es die besten gegrillten Hähnchen von ganz Kerbela. Die Preise sind schon gefallen, seit es die staatlichen Hühnerfarmen gibt. Doch noch immer ist Hähnchen im Irak das begehrteste Luxusgut der Bevölkerung. Dafür bezahlen auch die Gäste des "Furat" den durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet zwei US-Dollar. Das macht im zehnten Jahr des Embargos und in Zeiten anhaltender Hyperinflation 400 irakische Dinar.

Mit merkantiler Freundlichkeit begrüßt Wadia jeden Gast einzeln und lässt ihn dann von eifrigen Angestellten mit besten Wünschen zum Festmahl an den Tisch geleiten. Im "Furat" ist es sauber, die Holztafeln sind stets blank gewischt, die Speisen frisch zubereitet. Ein Generator überbrückt die Energieversorgung. So können die Speisen nicht verderben. Auch wenn jeden Tag der Strom für mehrere Stunden abgeschaltet wird.

Wadia managt das "Furat" mit Umsicht und persönlicher Fürsorge, denn er kassiert 30 Prozent des Umsatzes. Die meisten Kunden des "Furat" sind Pilger aus dem Iran. Nur noch wenige Iraker können ein Essen im Restaurant bezahlen. Die Iraner aber, Schiiten wie nahezu alle Bewohner von Kerbela, bringen das Geld in die Stadt. Denn Kerbela beherbergt eine Reihe der wichtigsten heiligen Stätten der Schiiten. Seit die Beziehungen zum ehemaligen Kriegsgegner so weit normalisiert sind, dass zumindest die Pilger wieder in den Irak einreisen dürfen, kommen pro Woche 1000 bis 1500 Menschen nach Kerbela. Sie alle wollen einmal im Leben die Al-Hussein- oder die Al-Abbas-Moschee sehen. Ihre Anzahl wird wöchentlich im Radio bekanntgegeben; sie alle müssen übernachten und essen, die Hotels und Restaurants der Stadt reißen sich um die zahlungskräftigen Pilger.

Der Besucherstrom hat Kerbela, anderthalb Autostunden südlich von Bagdad gelegen, ein wenig aus der Isolation befreit. Mit ihren Märkten und Moscheen, den einzigen bunten Flecken in der Landschaft, wirkt die Stadt weitaus orientalischer als das triste, betongraue Bagdad.

Wadia zählt zwei Drittel der Scheine in die rechte Schublade des Tresens, seinen Anteil legt er in die linke. Seit er seinen neuen Posten hat, verdient er zehnmal mehr als ein Abteilungsleiter in einem Bagdader Ministerium. In seinem früheren Leben war Wadia Sportlehrer, Ringer und außerdem der Direktor einer benachbarten Grundschule. Jetzt ist er 55 Jahre alt und Pensionär ohne Pension, denn die 500 Dinar, die Wadia monatlich erhält, sind umgerechnet gerade einmal 50 Pfennige wert. Davon lässt sich ein Leben nicht bezahlen.

Der Protest des deutschen Diplomaten

Seit im August 1990 das UN-Embargo gegen den Irak verhängt wurde - nur wenige Tage nachdem Saddam Hussein in Kuwait einmarschiert war - ist Geld das knappste Gut im Irak. Die Löhne sind kollabiert, Ansprüche auf Renten oder sonstige Verdienste auf einen Bruchteil der ursprünglichen Summen zusammengeschmolzen.

Im Arabischen nennen die Iraker das Embargo "Hisar": "Blockade", und sie meinen damit einen kriegerischen Akt gegen das irakische Volk. Sie unterteilen das Leben in die Zeit vor der Blockade und seit der Blockade - und haben an westliche Besucher nur eine Frage: Wann die Blockade zu Ende sein wird.

Der deutsche UN-Diplomat Hans von Sponeck hat diese Frage auch gestellt, immer wieder. Weil das Embargo trotz seines Protests aufrechterhalten wird, hat er in der vergangenen Woche seinen Rücktritt vom Amt des humanitären Koordinators im Irak angekündigt. Er hält die Sanktionen gegen den Irak für unfair, weil sie fast ausschließlich die Zivilbevölkerung treffen. Von Sponeck prangert an: Die Kindersterblichkeit hat sich fast verdreifacht, seit die Sanktionen verhängt wurden, das Schulsystem befindet sich in einem katastrophalen Zustand, die Industrie kann ihre Kapazitäten gerade einmal zu 30 Prozent nutzen. "Die Situation ist entwürdigend", hat von Sponeck in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" gesagt, und er weiß, dass es fast genauso klingt, wenn Saddam Hussein die Sanktionen "unmenschlich" nennt - deshalb hat von Sponeck die US-Diplomatie gegen sich aufgebracht, deshalb hat er jetzt kapituliert.

Der deutsche UN-Diplomat glaubt zwar, dass der Diktator die größte Schuld am Leiden der Bevölkerung trägt. Aber er weiß, dass er gegen Saddam nichts unternehmen kann - und dass der Irak im Begriff ist, ein Dritte-Welt-Land zu werden.

Die monatlichen Lebensmittel-Rationen reichen gerade einmal für drei Wochen. Fleisch, Käse und Eier stehen nicht auf dem Speiseplan der subventionierten Nahrungsmittel, die nicht viel mehr können als die Iraker vor dem Verhungern zu bewahren. Deshalb haben die Arbeiter, die am Grill des "Furat" schwitzen, gleich mehrere Jobs. Sie schuften in zwei Schichten, von frühmorgens bis nachmittags, dann noch einmal als Straßenverkäufer von abends bis weit nach Mitternacht. Das machen alle so, auch die unzähligen Mitarbeiter der überbesetzten staatlichen Bürokratien und Ministerien bis weit in die mittlere Führungsebene hinauf. Das schafft Solidarität. Wenn es nur noch um die Mahlzeit für den nächsten Tag geht, gibt es keinen Platz für Opposition. Ein kleiner persönlicher Vorteil - das ist alles, worum die Menschen hier noch kämpfen.

In Kerbela hat es angefangen zu regnen. "Mit dem Regen kommt der Reichtum", sagen die Iraker. Denn im vergangenen Jahr hat eine Dürre noch große Teile der Ernte vernichtet. Dieses Jahr hofft man auf bessere Erträge, auf Orangen und Datteln. Im Augenblick aber bringt der Regen vor allem die Kälte. Am Abend ist es gerade einmal ein paar Grad über Null, und Zentralheizungen gibt es fast nirgends.

Wadia macht sich auf zu seiner Frau Samira. Das Haus liegt in einer schmalen Seitengasse, zwei Straßenecken vom "Furat" entfernt. Drinnen ist es kalt, nur das Zimmer neben der Küche wird noch benutzt - die Menschen rücken zusammen, und so wird es ein bisschen wärmer. Wenn Besuch kommt, schaffen die Frauen einen kleinen Heizofen herbei; wenn der Strom ausfällt, zünden sie Kerzen an. Einen Generator wie im Restaurant gibt es hier nicht.

Der Schwager ist abgehauen

Wadia lebt hier mit seiner Frau Samira und den fünf Kindern seiner Schwägerin Juhaira. Der Vater der Kinder ist im vergangenen Jahr abgehauen; nach islamischer Tradition ist das ein grober Verstoß gegen die Fürsorgepflicht. Er habe es nicht mehr ausgehalten, sagt Juhaira, er sei ins Ausland gegangen, vielleicht nach Jordanien. Jetzt wartet sie also, tagsüber bei Samira und den Kindern, nachts in ihrem kleinen verfallenen Haus, und während sie wartet, verrinnt langsam das Leben.

Auf kleinen Tischen stehen bald heißer Tee mit viel Zucker und Wasser bereit. "Das Wasser wird langsam besser", sagt Wadia. "Zu Beginn des Embargos war es am schlechtesten. Eigentlich sollten wir es kochen. Aber es ist schon immer Brauch gewesen, das Wasser des Euphrat direkt zu trinken." Das Wasser zu reinigen, ist schwierig - Chlor steht auf der Embargoliste. Aber über Krankheiten macht sich Wadia wenige Gedanken.

Er hat andere Sorgen. Drei seiner Nichten sind im heiratsfähigen Alter, und es wird immer schwieriger, die Mädchen unterzubringen. "Die heiratsfähigen Männer haben kein Geld, um eine Familie zu gründen", sagt Wadia. Um so wichtiger sei es, dass die Kandidaten zumindest charakterfest seien. "Und wie soll man das zu Beginn schon so genau wissen?"

Eine der Nichten war schon einmal kurz verheiratet. Aber die Verbindung scheiterte, weil der Mann von Syrien aus illegal ins westliche Ausland fliehen wollte. Die Nichte ging nach Hause zurück, und einen neuen Mann für sie zu finden, scheint aussichtslos. Die Jüngste ist die 21 Jahre alte Muhasin. Auf die Frage, was sie sich von der Zukunft erhofft, bricht sie beinahe in Tränen aus. Sie sieht keine Zukunft, sagt sie. Und dann: "Ich möchte sterben." Juhaira sagt nichts dazu; sie hat schon lange keine Kraft mehr, ihren Töchtern Zuversicht zu geben. Sie kehrt abends in ihr Haus zurück, und bevor sie geht, steckt ihr Samira noch rasch ein paar Fladen Brot zu. Zum Abschied lädt Juhaira die Schwester noch in ihr eigenes Haus ein - Gastfreundschaft ist ein ehernes Gesetz, und wie alle Iraker bemüht sich Juhaira, die alten Sitten zu pflegen. Juhaira ist ein letztes Mal an diesem Tag verletzt, als die Schwester ihre Einladung unter vielen Entschuldigungen ablehnt. Denn es gibt noch eine eherne Regel der irakischen Gesellschaft: Gastfreundschaft darf man nur annehmen, wenn dem Gastgeber daraus kein Schaden erwächst.

Wadia kehrt unterdessen noch einmal zurück ins "Furat", um nach dem Rechten zu schauen. Die Stimmung ist besser dort.