Berliner Morgenpost, 20.2.2000

Irans Frauen halten traurigen Selbstmord-Weltrekord

Von Evangelos Antonaros

Zwei Stunden länger als vorgesehen blieben am Freitag im Iran die Wahllokale geöffnet. Unerwartet groß war der Andrang. Vor allem Jugendliche, aber auch Frauen ließen sich ihr Recht zur Stimmabgabe nicht nehmen. Für viele von ihnen war das eine mutige Tat der Verzweiflung. Ungezählte Frauen mussten Zwangsehen eingehen, das öffentliche Leben im islamischen Gottesstaat bestimmen die Männer.

SAD Teheran - Eine größere Sünde kann es für Moslems nicht geben. Nicht einmal der Verzehr von Schweinefleisch oder der Alkoholgenuss sind als Fehltritte so schlimm. Aber ausgerechnet die Islamische Republik Iran ist Weltrekordhalter in einem Bereich, wo man die Zahlen am liebsten verschweigen würde: Nirgendwo in der Welt ist die Selbstmordrate so hoch wie hier.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Teheran nehmen sich im Jahresdurchschnitt 25 bis 30 von 100 000 Iranern das Leben. Zum Vergleich: Der Weltdurchschnitt liegt bei 11,5 Personen. Was noch schlimmer ist: Bei 90 Prozent aller Fälle handelt es sich um junge Frauen, die aus Verzweiflung ihr Leben freiwillig beenden. Meistens durch Selbstverbrennung.

«Persönliche Misere und Unterdrückung in der Familie» nannte die Tageszeitung Sobh-e Emruz als Hauptmotive für die Selbstmordserie. Im Klartext: Viele junge Frauen sind unglücklich, weil sie in der iranischen Männerwelt oft von ihren Familienangehörigen misshandelt werden, aber auch, weil sie zu so genannten arrangierten Ehen gezwungen werden. Dazu eine Soziologin: «Manche gehen sogar freiwillig in eine eigentlich ungewollte Ehe - in der falschen Hoffnung, aus der eigenen Familie ausbrechen zu können.» Die Rechnung geht in der Regel nicht auf. Häufig - und nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Großstädten - dürfen sie das eigene Heim ohne Genehmigung des Ehemanns nicht verlassen.

«Unsere junge Frauen nehmen sich das Leben, vermutlich weil wir nicht in der Lage gewesen sind, für die nötige Vielfalt und Abwechslung in ihrem Alltag zu sorgen.» Mit dieser Feststellung schreckte die Sozialexpertin Fatemeh Tondguyan vom iranischen Erziehungsministerium ihre Landsleute im Herbst 1999 auf. Mit Zahlen konnte sie belegen: Im Tagesdurchschnitt versuchen 20 Iranerinnen sich das Leben zu nehmen, acht von ihnen sterben dabei. «Wir haben versagt, weil 73 Prozent aller iranischen Frauen kein Ziel im eigenen Leben sehen.»

Nach iranischem Recht ist jedes Mädchen schon mit neun Jahren heiratsfähig. Die Folge: Oft werden sie von ihren Eltern mit erheblich älteren Männern verheiratet. «Wenn diese Frauen Jahre später sehen, wie sie misshandelt werden, wollen sie nicht weiterleben», konstatierte eine Teheraner Tageszeitung.

«Arrangierte Ehen» sind im Iran ein Tabu-Thema, über das kaum jemand öffentlich redet. Als kürzlich ein Kinofilm mit dem Titel «Süße Probleme» die Entscheidung eines jungen Mannes und einer jungen Frau aus besseren Familien behandelte, eigene Wege zu gehen und die von ihren Eltern seit ihrer Geburt vereinbarte Eheschließung zu boykottieren, entbrannte eine öffentliche Diskussion über die «unmoralische» Thematik. Die Theologen in der heiligen Stadt Ghom wollten den Film verbieten lassen. Schließlich setzte sich Zahra Schdschai, die Beraterin von Staatspräsident Mohammed Chatami für Frauenfragen, durch, so dass der Film freigegeben wurde.

Es sind nicht nur unbedarfte und ungebildete Frauen, die sich den Freitod als die ultimative Lösung für ihre Probleme aussuchen. Immer mehr Abiturientinnen und Akademikerinnen nehmen sich das Leben. Vor allem gebildete und daher anspruchsvolle Frauen können mit dem grauen Alltag Irans nicht viel anfangen. Die meisten Sportarten sind ihnen nach wie vor verwehrt. Nur die wenigsten Familien lassen zu, dass ihre Töchter ohne männliche Begleitung ins Kino gehen. Die Arbeitslosigkeit unter Frauen mit abgeschlossenem Studium ist mit knapp 35 Prozent besonders hoch.

Hinzu kommt: Die früher oft als gezielter Ausbruch aus der Unterdrückung in der eigenen Familie praktizierte Heirat wird immer schwieriger - aus finanziellen Gründen. Wegen der desolaten Wirtschaftslage, der niedrigen Löhne und der hohen Teuerungsrate können sich immer weniger Iraner die Gründung einer Familie leisten. Vermutlich daher hat 1998/99 die Scheidungsrate um 40 Prozent zugenommen. Eine Zeitung: «Gefährliche soziale Krisensymptome machen sich bemerkbar.»

Besonders schwer haben es junge Frauen in den unterentwickelten Provinzen entlang der irakischen Grenze. Experten sprechen von den Spätfolgen des langen Krieges mit dem Nachbarn. In der relativ kleinen Grenzprovinz Ilam haben sich 1998 - wie jetzt erst bekannt wurde - 338 jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren das Leben genommen. Damit nahm dort die Selbstmordrate gegenüber dem Vorjahr um 37 Prozent zu. Bei gut 72 Prozent der Opfer handelte es sich um Abiturientinnen, die keinen Sinn mehr im Leben sahen. In Ilam gibt es kein einziges Kulturzentrum, im einzigen Kino werden fast ausschließlich Gewaltfilme gezeigt.

«Viele dieser Mädchen stammen aus Familien mit Stammeshintergrund, die sich in den Großstädten niedergelassen und mit der Umstellung nicht zurecht gefunden haben», hat der Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität Ilam, Ali Morvarid, festgestellt.

Zahlreiche Frauen versuchen es mit der Flucht in Richtung Großstadt, vor allem nach Teheran - ein früher völlig undenkbarer Vorgang. Täglich werden in der Hauptstadt bis zu 45 Mädchen vom Land von der Polizei aufgefischt.

Seit Mitte 1999 werden sie im städtischen «Haus von Raynaheh» als «soziale Opfer» betreut. Dessen Leiterin, Fahimeh Eskandari, versucht, die meisten jungen Frauen zu ihren Familien zurückzubringen, weil der Verbleib in der Stadt sie zu so genannten «Spezialfrauen» abstempeln könnte, was ein Euphemismus für Prostituierte ist - ein Begriff, den es im islamischen Iran ebenfalls nicht geben darf.

«Wir wollen den Mädchen dabei helfen, zu ihrer verlorenen Identität zurückzufinden», betont Eskandari. Aber die Bemühungen der engagierten Helferin sind nur in einem von drei Fällen erfolgreich. In der Regel wollen die flüchtigen Mädchen von ihren Vätern und Brüdern nichts mehr wissen - weil sie eben von ihnen so schwer misshandelt worden sind. Dazu eine Teheraner Soziologin: «Gewalt in der Familie ist ein Thema, das im Iran so schlimm ist, dass die meisten es am liebsten verschweigen.»