Neue Zürcher Zeitung, 17. Februar 2000

Grosses Reinemachen in Irans Volkskammer?

Heftiger Wahlkampf der Reformer gegen Rafsanjani

Ein erbitterter Wahlkampf und eine bilderstürmerische Volksstimmung lassen einen Erfolg von Irans Konservativen mit Hilfe Rafsanjanis in den Parlamentswahlen fraglich erscheinen. Khatamis Reformer setzen trotz ihrer Zersplitterung auf einen Sieg mit Hilfe der jungen Wähler. Es geht um ein merkliches Zurückdrängen der Geistlichen durch den Volkswillen.

vk. Teheran, 16. Februar

«Wir müssen im Haus des iranischen Volkes einen Frühlingsputz machen und allerlei Elemente auf den Müll werfen», spricht Said Hejarian, ein Anführer von Khatamis Partei der Beteiligung am islamischen Iran. «Abgeordnete, die dem Willen der Bürger nicht entsprechen, gehören nicht in den Majlis.» Die Menge von etwa fünftausend Reformanhängern bei der Wahlveranstaltung in der Teheraner Shirudi-Sporthalle kocht. Rhythmische Sprechchöre wogen hin und her zwischen den Reihen der schwarz verhüllten Frauen und der Männer. «Freiheit, Freiheit für Kadivar und Nuri», brüllen sie und fordern die Entlassung der beiden führenden Reformgeistlichen aus der Haft. Und «Hashemi, Hashemi, Gedankenfreiheit gibst du nie»: eine klare Absage an den ehemaligen Präsidenten Rafsanjani, der als Kandidat der politischen Mitte ins Rennen gestiegen ist. Der Einpeitscher sucht über das Mikrophon die Aufregung in gemässigte Bahnen zu lenken, aber auf seine klassischen Parolen für die Islamische Republik und Unabhängigkeit antwortet die Menge bald mit «Azadi, azadi!» (Freiheit).

Eine schärfere Wende?

Hier sind Teheraner, jugendlichen und mittleren Alters, die iranische Fähnchen und die gelben Plakate der Beteiligungspartei schwenken. Sie sind politisch wach, selbstbewusst und motiviert, und sie wünschen Präsident Khatamis Anhängern eine Mehrheit im Majlis, damit die politischen Reformen rascher vorankommen, die Bürgerrechte und Freiheiten erweitert und garantiert werden. Die meisten hätten nichts gegen die Einführung der Volkswahl auch für den Herrschenden Geistlichen, den Revolutionsführer Khamenei, und die Abschaffung des Mullah-Wächterrats. Mohammed-Reza Khatami, ein 40jähriger Arzt, Bruder des Präsidenten und Listenführer der Partei, ruft der Menge zu: «Wir verpflichten uns, euren demokratisch geäusserten Willen getreulich zu respektieren und umzusetzen. Denn unsere gemeinsame Macht beruht auf den Stimmen von euch allen.» Nach ihm kommen die Meinungsmacher der Reformfront, deren Kandidatur von Wächterrat abgelehnt wurde: der ehemalige Geiselnehmer Abbas Abdi, die Zeitungsmacher Jalaipur und Aghajari. Sie beantworten Fragen, die auf kleinen Zetteln aus dem Publikum eingereicht werden: «Was macht ihr mit dem Revolutionsführer, wenn ihr die Mehrheit gewinnt? Und was mit dem Wächterrat?» Die Antworten fallen vorsichtig aus. «Wir machen am 29. Bahman (dem Wahltag) einen zweiten Khordad!» brandet es aus der Menge. Khatamis überraschende Wahl am 2. Khordad 1997 galt vielen als eine zweite, unblutige und demokratische Revolution.

Fader Auftritt von Fayezeh Rafsanjani

Zwei Tage später tritt die Partei der Dienstleister für den Aufbau, die politische Mitte, in der gleichen Sporthalle an. Doch der Funke will nicht springen. Eine Blechmusik stimmt nationalistische Hymnen an, und alle schwingen selig Fähnchen. «Fayezeh, wir lieben dich!» rufen die Frauen der Tochter des ehemaligen Präsidenten Rafsanjani zu. Die Jungen wagen nicht recht einzustimmen. Vor allem Studenten sind versammelt, auch Frauen-Sportvereine, für deren Förderung Fayezeh als Leiterin des Olympischen Komitees viel getan hat. Dutzende von Bussen, mit denen die wohlorganisierte Partei das Publikum herbeigefahren hat, stehen vor der Tür. Fayezeh steht klein und etwas steif auf der Empore, hebt grüssend den vom Schleier behinderten Arm. Ihre Stimme ist von den vielen Reden angegriffen. Sie ruft nach einem nüchternen Wählerurteil und einem pluralistischen Majlis, der sowohl die Herrschaft des Gottesgelehrten als auch die Reformen vereinbaren könne. Doch wo bleibt der Super-Dienstleister Karbasji, der abgesetzte Teheraner Bürgermeister, der eben rechtzeitig vor der Wahlkampagne per Amnestie aus dem Gefängnis kam? Wo bleibt Kulturminister Mohajerani? Das lächelnde Bild des Präsidenten ziert die Plakate im Publikum. Das Porträt Rafsanjanis hingegen, des Listenführers und Mentors der Dienstleisterpartei, erscheint nirgends.

Schon in der Vorbereitung der sechsten Parlamentswahlen der Islamischen Republik erkannten viele ein Rückzugsgefecht der Konservativen. So fragen sich beim eigentlichen Urnengang alle lediglich, wie gross der Erfolg der Reformer trotz allen Behinderungen ausfallen wird. Eine politische Wende liesse sich freilich erst nach einigen Beschlüssen des neuen Majlis sicher diagnostizieren, da das Profil der einzelnen Kandidaten ebenso verschwommen ist wie dasjenige der Listen, Parteien und Gruppierungen. Angeblich situieren sich 18 Gruppierungen eher reformistisch und deren 11 eher konservativ. Von den anfänglich 6856 Anwärtern schloss der Wächterrat bei der «islamischen Charakterprüfung» 576 aus. Drei Tage vor der Wahl vom 18. Februar blieben noch 5824 Kandidaten, unter ihnen 513 Frauen, für die total 290 Sitze des Majlis. Das sind aber immer noch weit mehr als die 3231 Kandidaten bei der letzten Wahl vor vier Jahren. Die Mehrzahl der Ausgeschlossenen waren diesmal Reformer. Ihr mutmasslicher Sieger und wahrscheinlicher Parlamentspräsident, der frühere Innenminister Abdallah Nuri, war schon früher wegen «Verunglimpfung des Islams» ins Gefängnis gesteckt worden. Die konservative Mehrheit im Parlament befristete den Wahlkampf auf eine Woche, um die Reformer bei der Werbung für ihre wenig bekannten Kandidaten zu behindern. Sie selbst stellte eine Reihe altgedienter Politiker der Islamischen Revolution auf.

Ein zweifelhafter Retter in der Not

Die Konservativen versuchten die Wähler noch zusätzlich zu verwirren, indem sie zunächst die Khordad-Front der Reformer aufsplitterten und dann ihre eigenen Kandidaten als Modernisten ausgaben. Ihr Meisterstreich war der Auftritt des früheren Präsidenten Hashemi Rafsanjani mit dem Image eines neutralen Zentrumspolitikers. Er soll abwandernden Anhänger der Konservativen auffangen und zugleich das Reformlager schwächen. Prompt zerfiel die Khordad-Front in ein halbes Dutzend Gruppen, weil Khatamis Beteiligungspartei die Aufnahme Rafsanjanis auf ihre Liste wegen seiner oligarchischen Züge und seines undurchsichtigen Programms verweigerte. Fayezeh ging ihrerseits merklich auf Distanz zu den Reformern und führte anstelle ihres Vaters den aktiven Wahlkampf der Zentristen.

Doch jenseits dieser Prominenz hört die Übersicht auf. So lächelt der hartgesottene Revolutionär und General Mohsen Rezai, der langjährige Kommandant der Revolutionswächter und der Kriegsfreiwilligen, den Wähler heute als «Dr. Rezai, der Kandidat nahezu aller Gruppierungen des Landes» an. Rafsanjani lässt sich ohne Turban und in Begleitung kleiner Kinder ablichten, andere Geistliche verzichten diskret auf die Nennung ihres Titels Hojatoleslam und bemühen sich um ein ewiges Lächeln. Die Slogans sind ohnehin kaum zu interpretieren: Wer sieht schon den Unterschied zwischen «Gott, Brot, Freiheit», «Friede, Frische, Freiheit», «Iran für alle Iraner» und «Stabilität, Wohlfahrt, Freiheit»?

Bauernschlau auf den Spuren Khomeinys

In der bescheidenen Teheraner Vorstadt Varamin wirbt eine Kandidatin mit professionellem Aufwand um Stimmen. In ihrem Kampagnebüro im ersten Stock eines Krämerladens thront sie neben einem Eisenofen. Nebenan sitzt in der Ecke ein Frauengrüppchen. Die angehende Politikerin tritt sehr konventionell auf: Ihr Tschador ist tiefschwarz, und ihr Gesicht verrät kein Krümchen Schminke. Als ihren grössten Vorzug streicht sie drei Brüder heraus, die als Märtyrer im Irak- Krieg gefallen sind. Im Parlament will sie auf deren Spuren und auf dem Weg von Imam Khomeiny wandeln. Mit einiger Bauernschläue bezeichnet sie ihr Unternehmen als «Dialog». Ihr Hauptanliegen sind die beschnittenen Rechte der Frau. Ihre Kampagne kostet samt Mieten, Werbung und Süssigkeiten für die Gäste umgerechnet rund 20 000 Franken; das Geld stammt von ihrem Gatten, der bereits Abgeordneter ist. Es wird vermutet, dass dieser wohl staatliche Unterstützungsgelder lockermachen konnte. Andere Kandidaten in Varamin schweigen sich über ihre Geldquellen aus. Sie pflegen alle ein Image von Verdiensten um Revolution, Krieg und Staat sowie der Bereitschaft zu aufmerksamem Einsatz für die Anliegen der Bürger.

Die Erfahrung in Iran zeigt, dass der konservative Flügel jeweils maximal ein Drittel der Wählerschaft für sich mobilisieren kann. Viele rechnen aber mit einer Einbusse, weil Rafsanjanis Ansehen in den jüngsten Reformjahren gelitten hat. Es hängt demnach davon ab, ob Khatamis Reformer nochmals derart breite Schichten der 38,7 Millionen Stimmbürger zur Urne bringen können wie 1997 anlässlich der Wahl des Staatsoberhaupts mit einer spektakulären Beteiligung von 89 Prozent. Mehr als die Hälfte aller Iraner sind unter 20 Jahre alt, und wahlberechtigt sind sie schon mit 16. Offen ist, ob ein erdrückender Sieg des Khatami-Lagers und eine allzu brüske Wende nicht gefährliche Folgen hätten, weil die Konservativen nach 20 Jahren der Dominanz die politische Bühne kaum kampflos räumen würden.