Tagesspiegel, 18.2.2000

"Das Lager der Reformer wird gestärkt"

Iranexperte Johannes Reissner über die Parlamentswahl

Johannes Reissner (52) arbeitet seit 1982 in der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Iran-Experte und Islamwissenschaftler war auch als OSZE-Beobachter in Tadschikistan. Mit ihm sprach Armin Lehmann.

Ist der Reformkurs von Präsident Chatami noch zu gefährden?

Nein. Es ist damit zu rechnen, dass das Lager der Reformer gestärkt wird. Ob die Reformer wirklich die Mehrheit im Parlament gewinnen, ist wegen der hohen Zahl von "unabhängigen" Kandidaten offen. Schwierig wird die Frage nach der Geschwindigkeit und Richtung der Reformen. Denn innerhalb des Reformlagers gibt es zwei Gruppen. Erstens diejenigen, die für politische Reformen eintreten - also Demokratisierung, Transparenz, Rechtsstaat, Zivilgesellschaft - und dann diejenigen, die mehr für die bitter notwendigen Wirtschaftsreformen stehen. Chatami gehört zu den "traditionell" Linken, die einer Marktwirtschaftsreform eher skeptisch gegenüber stehen.

Was hat Chatami an Reformen umgesetzt?

Chatami hat zwar ein Programm für die Reform der Wirtschaftsstrukturen vorgelegt, und unter ihm wurde der dritte Fünf-Jahresplan erstellt. Aber seine Leistungen liegen auf einem anderen Gebiet. Er hat vor allem den inneriranischen Diskurs geöffnet. Er hat die politischen Reformen vorangetrieben, und er hat Iran nicht nur im westlichen Ausland zu Ansehen verholfen. Wir verurteilen Iran jetzt nicht mehr nur als Mullah-Staat, sondern bilden uns ein, wenigstens zwischen "Gut" und "Böse" unterscheiden zu können. Unter Chatami konnten Modernisierungstendenzen, die im Iran gut hundertjährige Tradition haben, aber oft durch autoritäre Herrschaft verschüttet worden sind, neu ans Licht kommen.

Chatami spricht von der wichtigsten Wahl seit der islamischen Revolution von 1979.

Vielleicht werden diese Wahlen die wichtigsten dafür sein, dass das republikanisch-demokratische Moment der Islamischen Republik Iran zum Durchbruch kommen und sich positiv in Institutionen festigen kann.

Steht die Jugend, zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 30, hinter der Revolution?

Die Revolution ist ein elementarer Bestandteil der erzählten Biografie heutiger Jugendlicher im Iran, aber nicht mehr Teil ihres erlebten Selbstverständnisses. Die Jugendlichen fragen in erster Linie nach ihren Perspektiven und höchstens in zweiter Linie, ob die was mit der Revolution zu tun haben.

Was kann der Westen tun, um den Reformprozess zu unterstützen?

Erstens, Wirtschaftsbeziehungen werden auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Es wäre schön, wenn die deutsch-iranischen Beziehungen dazu beitragen könnten, die industriellen Kapazitäten Irans zu fördern. Zweitens ist im bilateralen Verhältnis weniger das Sprechen über Kultur wichtig, sondern die Praxis. Die Menschen müssen sich kennenlernen. Der zu erwartende Besuch von Präsident Chatami in Deutschland sollte auch dazu beitragen können, in breiter Öffentlichkeit ein adäquateres Bild des heutigen Iran zu fördern.