Tagblatt (CH), 18.2.2000

Die Zukunft den Reformern?

Iran wählt heute ein neues Parlament - Bedrängte Konservative

Die künftige Zusammensetzung des Parlaments dürfte den sich verschärfenden Machtkampf in Iran massgeblich beeinflussen. Mehr als 500 Kandidaten waren deshalb in den letzten Wochen von der Wahlkommission abgelehnt worden. Davon betroffen waren vor allem charismatische Reformer, etwa der wegen «anti- islamischer Propaganda» zu fünf Jahren Gefängnis verurteilte ehemalige Innenminister Abdullah Nuri, sowie prominente Journalisten und Akademiker, deren energisches Streben nach grundlegenden Veränderungen vom «Wächterrat» als «unislamisch» verurteilt wurde. Die islamische Charakterprüfung der konservativen Kandidaten fiel dagegen erwartungsgemäss positiv aus. Dennoch sieht sich die Rechte in der Defensive. In Erwartung erheblicher Stimmenverluste hatte die konservative Mehrheitsfraktion im Parlament als eine ihrer letzten Amtshandlungen die Prozenthürden für die Wahlen um acht Punkte gesenkt. Nun sind für einen Sitzgewinn im ersten Durchgang nur noch 25 Prozent der Stimmen in einem Wahlkreis erforderlich.

Entscheid zwischen drei Blöcken

Es zeichnet sich ein Dreikampf zwischen Reformern, Konservativen und den Zentristen der «Wiederaufbaupartei» ab, die zur Überraschung vieler Beobachter den früheren Staatspräsidenten Rafsanjani als ihren Spitzenkandidaten aufgestellt hat. Gleichzeitig hat sich der prominente Geistliche auf den Schild der Konservativen heben lassen. Mit ihm als Zugpferd erhofft sich die Rechte Stimmengewinne. Rafsanjani wiederum versucht mit seinem Spagat zwischen Zentrum und Konservativen einen allzu deutlichen Wahlsieg der Reformer zu verhindern. Ob diese Rechnung aufgeht, bleibt abzuwarten. Sein den Rechten zugeworfener Rettungsanker, befürchten Beobachter in Teheran, könnte sich als Bumerang erweisen, falls die Wähler Rafsanjani die Gunst versagen. Vor allem die Anhänger der reformistischen «Beteiligungsfront» von Staatspräsident Chatami, die dessen Bruder Reza als Spitzenkandidaten aufgestellt hat, verunglimpfen Rafsanjani als «rechten Maulwurf» und «Opportunisten», der nach dem Motto «Teile und herrsche» das Amt des nächsten Parlamentspräsidenten anstrebe. Es gibt aber auch Stimmen, die sich von Rafsanjani eine «positive Bremswirkung angesichts der weit reichenden, häufig radikal anmutenden Forderungen der Reformisten versprechen». Ein Erdrutschsieg der fortschrittlichen Kräfte, heisst es in diesem Zusammenhang, könnte unberechenbare, womöglich sogar gewaltsame Aktionen des konservativ-islamischen Establishments zur Folge haben.

Nationalistische Parolen

Seine Kandidaten verzichten im Wahlkampf auf traditionelle Revolutions- slogans und allzu fromme Sprüche. Stattdessen werben sie mit nationalistischen Parolen um die Gunst der Wähler, denen grossspurig die «Lösung ihrer Probleme», «ein gutes Leben» sowie «Brot und Freiheit» versprochen wird. In persönlichen Gesprächen bezeichnen sich auch die meisten konservativen Kandidaten als «Anhänger» von Präsident Chatami. Dass sie dessen Reformvorhaben in den letzten zweieinhalb Jahren energisch bekämpft haben und dies wohl auch in Zukunft tun werden, spielt im Wahlkampf keine Rolle. Mit Lügen, Halbwahrheiten und einer gross angelegten Verunsicherungskampagne versuche die Rechte ihre drohende Niederlage abzuwenden, behaupten nicht nur die Anhänger der reformistischen «Beteiligungsfront». Aktivisten der rechtsextremen «Partei Gottes» rissen in der Nacht die Wahlplakate reformistischer Kandidaten ab und störten ihre Wahlveranstaltungen. In Bandar Abbas am Persischen Golf musste ein von der «Beteiligungsfront» veranstaltetes Popkonzert abgebrochen werden, als Hisbollahis die Bühne stürmten.

Im Schatten des Präsidenten

Staatspräsident Chatami hat sich im Wahlkampf bislang geschickt zurückgehalten. Am Revolutionstag in der vergangenen Woche rief er die Bürger auf, «wie schon bei den Präsidentenwahlen vor zweieinhalb Jahren in grosser Zahl zu den Urnen zu gehen». Fast gleich lautende Appelle kamen aus dem Mund von Revolutionsführer Ali Chamenei, den Beobachter schon jetzt als einen der «grossen Verlierer» bezeichnen. Der konservative Geistliche steht im Schatten von Staatspräsident Chatami. Sein Porträt ist auf den Wahlplakaten der iranischen Parteien zwar allgegenwärtig. Doch reformistische wie konservative Kandidaten verzichten gegenwärtig aus taktischen Gründen darauf, mit dem Nachfolger von Ayatollah Chomeini als Zugpferd auf Stimmenfang zu gehen. Michael Wrase, Teheran