Die Welt, 18.2.2000

"Die Jugend zerbricht an der Doppelmoral"

Von Evangelos Antonaros

Teheran - "Das Rad ist nicht mehr zurückzudrehen", sagt die 19-jährige Architekturstudentin Zahra und ist fest davon überzeugt, dass ihr Leben "demnächst völlig anders sein wird". Sie macht keine Anstalten, mit ihrem "Rusari", dem Kopftuch, das in ihrem Fall eine Seidenkreation eines französischen Modeschöpfers ist, ihre Haare zu verdecken. Ihr Gesicht ist geschminkt. Statt des knöchellangen Tschadors trägt sie einen schicken, knielangen Ledermantel. Darunter sind eng anliegende, hellblaue Jeans zu erkennen.

Bei allen Veranstaltungen der reformorientierten Iranischen Islamischen Beteiligungspartei (IIPP) ist Zahra dabei. Gemeinsam mit Hunderten von Jugendlichen klatscht sie Beifall, wann immer von mehr Freiheiten die Rede ist. Sie singt auf der Tribüne und hält Fotos von Staatspräsident Mohammed Chatami hoch, dem Hoffnungsträger der Jugend.

"Mit der Trauer ist es nun endgültig vorbei", meint auch der Taxifahrer Mohden voller Optimismus. "Wir wollen endlich das Leben genießen." Und das tun die Menschen, so oft und so gut sie können: In den Bergen oberhalb der Hauptstadt Teheran werden Partys veranstaltet, Mädchen und Jungen tanzen und flirten am islamischen Wochenende miteinander. Vergeblich hat die Sittenpolizei in den letzten Monaten versucht, diese improvisierten Treffen zu verbieten.

Junge Leute und Frauen haben ein gemeinsames Ziel im heutigen Iran: 21 Jahre nach der Islamischen Revolution, die ihre Freiheiten wider Erwarten erheblich eingeschränkt hat, wollen sie das frustrierende Doppelleben beenden. In den eigenen vier Wänden tragen die Mädchen Miniröcke, Alkohol wird getrunken, Techno-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, die neuesten Videofilme aus dem Westen flimmern über den Bildschirm. Aber in der Öffentlichkeit wird allen ein betont prüdes Verhalten abverlangt. "Die Jugend zerbricht an dieser Doppelmoral", sagt ein Soziologe dazu.

Seit Chatamis Wahlsieg 1997 sind die Verhaltensregeln zwar ein bisschen lockerer geworden. Aber noch immer sind viele tagtäglich der Willkür der Sittenwächter ausgesetzt. Immer noch landen Pärchen im Gefängnis oder werden ausgepeitscht, weil sie ohne Trauschein Händchen haltend in der Öffentlichkeit gesehen wurden.

Um seine Macht auszubauen, setzt Chatami auf die Jugend, die 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, und auf die Frauen. Aber nun stellen diese Gruppen ultimative Forderungen an ihn: "Wenn er die Mehrheit im Parlament hat, dann muss er schnell handeln. Ausreden werden wir nicht mehr akzeptieren", meint einer.

Zur Speerspitze der Reformen sollen die weiblichen Abgeordneten werden: Zwar sind nur 7,5 Prozent aller Kandidaten Frauen. Aber wenn alles gut geht, soll jeden fünften Parlamentsplatz eine Frau besetzen. Faeseh Haschemi, Tochter von Ex-Staatschef Rafsandschani, kämpft für die Rechte von Frauen und Jugendlichen. Sie meint: "Wir können die neuen Trends in der Gesellschaft nicht mehr ignorieren."