Die Welt, 18.2.2000

Rafsandschani soll die Reformer bremsen

Irans Ex-Präsident gilt als Favorit für das Amt des Parlamentssprechers - Entscheidung über den künftigen politischen Kurs Knapp 39 Millionen Iraner sind heute aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen - Viele sprechen von Schicksalswahlen - Reformer um Präsident Chatami und Konservative um Religionsführer Chamenei kämpfen um die Jugend des Landes

Evangelos Antonaros

Teheran - Knapp 38,7 Millionen wahlberechtigte Iraner haben heute bei der sechsten Parlamentswahl seit der Islamischen Revolution von 1979 eine schwierige Entscheidung zu treffen: Wollen sie den vor anderthalb Jahren als Hoffnungsträger gewählten Staatschef Mohammed Chatami mit einem klaren Mandat ausstatten, seine bisher äußerst zögerlichen Reformen voranzutreiben?

"Geht hin und stärkt mit eurer Stimme die Demokratie", forderte Chatami das Wahlvolk auf, das ihn im Mai 1997 mit knapp 70 Prozent der Stimmen überraschend zum Staatsoberhaupt gewählt und die konservativen Kräfte im geistlichen Establishment düpiert hatte. Von den fast 6000 Kandidaten, die sich heute um die 290 Sitze im Parlament bewerben, sind dem Volk nur wenige bekannt, ihre politische Ideen und Ansichten blieben während des knapp einwöchigen Wahlkampfes weitgehend im Dunkeln.

Fast alle aber sprechen, ob im Reformlager, in der politischen Mitte oder bei den Konservativen, von Freiheit und sozialem Engagement. Klare Trennlinien zwischen Reformern und Konservativen existieren nicht. Chatami und seine Anhänger, die aus insgesamt 18 Gruppen und Gruppierungen aller Schattierungen stammen, wollen das Land sozial, politisch und wirtschaftlich reformieren. Dennoch bleiben sie dem ungeduldigen Volk vor allem in den Großstädten eine genaue Darlegung schuldig, was sie wirklich wie ändern wollen.

Innerhalb Chatamis heterogenem Sammelbündnis werden allerdings Richtungskämpfe ausgetragen: Die so genannten "Linken" waren unmittelbar nach Chomeinis Revolution die Scharfmacher, seit Ende der achtziger Jahre aber stehen sie politisch im Abseits. Nun versuchen sie ein Comeback, sprechen von politischen und sozialen Freiheiten, wollen aber den staatlich kontrollierten Charakter der Wirtschaftsstrukturen nicht antasten.

Die wahrhaft progressiven Kräfte setzen auf echte Wirtschaftsreformen, die sie als einzig gangbaren Weg aus der Staatskrise betrachten. Die beiden großen Formationen waren nicht einmal in der Lage, eine einheitliche Kandidatenliste aufzustellen.

Nutznießer dieser internen Auseinandersetzungen, die die Wähler verunsichern, könnte der erfahrenste aller iranischen Politiker sein: Akbar Haschemi Rafsandschani. Der ehemalige Parlaments- und Staatspräsident betritt als selbst ernannter Pragmatiker und Mann des Ausgleichs erneut die politische Arena. Sein Ziel: Er will das wichtige Amt des Parlamentspräsidenten erobern. Seine Chancen sind nicht nur wegen seines hohen Bekanntheitsgrades besonders gut. Hinzu kommt, dass ihm ausgerechnet die konservativen Kräfte den Rücken stärken, deren Wortführer der mit allen Vollmachten ausgestattete religiöse Führer Ayatollah Ali Chamenei ist.

Denn diesmal haben die Konservativen keinen eigenen Kandidaten aufgestellt und protegiert. Sie setzen in dieser wichtigen Wahl auf das alte "Schlachtross" Rafsandschani in der keineswegs unbegründeten Erwartung, dass er als Vertreter der politischen Mitte und des Mullah-Establishments den drohenden Aufmarsch der in ihren Augen unberechenbaren Reformkräfte wird bremsen oder zumindest verlangsamen können.

Ob diese Rechnung aufgeht, hängt vom Abschneiden der Kandidaten des Reformlagers und dessen Spitzenkandidaten ab. Die Hoffnungen lasten auf einem Mann, der erst sehr spät zum Spitzenkandidaten aufgebaut wurde: Der politisch unerfahrene Bruder des Staatspräsidenten Mohammed Reza Chatami. Der 40-jährige Arzt tritt als Spitzenkandidat der reformorientierten Iranischen Islamischen Beteiligungspartei (IIPP) an. Das Duell zwischen ihm und Rafsandschani könnte den Ausschlag dafür geben, wer der nächste Parlamentspräsident wird.

Ein Erfolg Rafsandschanis käme nicht unbedingt einem Reformstillstand gleich. Auch er, der wegen diverser Skandale arg kritisiert wurde, prangerte zuletzt die Schwerfälligkeit mancher Institutionen an. So zeichnet sich also ab, dass es bei dieser Wahl nicht so sehr um eine radikale Wende, sondern nur noch um die Dosierung der überfälligen Reformen gehen wird. Und um die Neuverteilung der Ämter und der oft mit finanziellen Vergünstigungen verbundenen Privilegien innerhalb des recht engen ideologischen Korsetts der islamischen Vorgaben.

Die Wahlen im Internet: www.iranelections.com