Der Bund (CH), 16.2.2000

Die Eigendynamik von Khatamis Reformprozess

PARLAMENTSWAHLEN / Skepsis und Frustration haben die Begeisterung für den iranischen Präsidenten Khatami gedämpft. Ob die Reformer oder die Konservativen die Parlamentswahlen vom kommenden Freitag gewinnen werden, ist deshalb völlig offen. Doch so oder so lässt sich die Entwicklung, die Khatami in den vergangenen zwei Jahren in Gang gesetzt hat, nicht rückgängig machen.

BIRGIT CERHA, TEHERAN

Doch als ein junger Karikaturist jüngst wagte, den erzkonservativen militanten Ajatollah Mesbah Yazdi als Krokodil zu porträtieren, riefen dessen einflussreiche Gesinnungsgenossen zum Kampf. Nachdem Hunderte Geistliche mit einem Sitzstreik in der heiligen Stadt Qom Ataollah Mohajeranis Rücktritt erzwingen wollten, hat sich die Situation inzwischen etwas beruhigt. Doch Mohajerani bleibt für die politischen Gegner Khatamis die Inkarnation allen Übels. Der Minister aber denkt nicht an Rücktritt - und sein Chef zwingt ihn nicht dazu. Iran schreitet voran auf dem Weg der Meinungsfreiheit. «Die Meinungsfreiheit ist die wichtigste Errungenschaft der zweieinhalbjährigen Amtszeit Khatamis», sagt die Psychologiestudentin Farnaz. «Sie ist der Ausgangspunkt zur Demokratisierung der Gesellschaft.» Über dreissig Tageszeitungen und Zeitschriften befassen sich heute mit internen politischen Problemen. Zwar wurden Dutzende gesperrt, und das von Konservativen beherrschte Pressegericht brachte die mutigsten Reformer zum Schweigen, doch immer neue Publikationen treten an die Stelle der verbotenen. Der von Khatami eingeleitete Reformprozess hat eine Eigendynamik entwickelt.

Politischer Bildungsprozess Über 25 Parteien sind heute registriert, die meisten sind allerdings nur klein, ohne klare Strukturen und Programm. Politischer Pluralismus ist erst im Entstehen begriffen. Vorerst übernehmen die Medien den politischen Bildungsprozess, diskutieren die Ideen von Politikern und neuen Parteien und versuchen Missstände, Machtmissbrauch und Korruption selbst unter den höchsten Führern aufzudecken. Doch die Fortschritte sind mager. Das langsame Tempo der Veränderung zerrt am Geduldsfaden der 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die 1997 Khatami und seinem Reformweg ihr Vertrauen schenkten und den milden Philosophen und Intellektuellen damit in den Präsidentenstuhl hoben. Viele hat tiefe Skepsis erfasst. Ist ihr Präsident zu schwach und zu wenig energisch, um sich gegen die mächtigen Konservativen durchzusetzen? An den Universitäten herrscht nach den schweren Unruhen im vergangenen Juli Ruhe. «Die Schlägertrupps der Konservativen, die die Studenten damals provozierten, haben sich zurückgezogen», erläutert der Technikstudent Reza die auffallende Stille in der kritischen Phase. Khatami hat die Studenten zur Ruhe gedrängt, damit die Parlamentswahlen am kommenden Freitag ungestört über die Bühne gehen. Die Studenten wollen ihrem Idol diese Chance noch geben.

Fehlendes Engagement Seit seinem Amtsantritt mass Khatami diesen Wahlen grosse Bedeutung für seinen Reformprozess bei. Denn die Majlis, das Parlament, ist eine der wichtigsten Bastionen der Konservativen. Dort blockieren sie nach Kräften Gesetze und entscheidende Veränderungen, die die islamische Theokratie zu einer toleranteren, einer demokratischeren Republik machen sollen. Gewinnt Khatamis Reformallianz die Mehrheit, könnte die Wandlung entschlossener und spürbarer werden. Das Volk ist müde, skeptisch und frustriert. Selbst bei Khatamis Hausmacht, den Studenten, fehlt es diesmal an Engagement. «Vor den Präsidentschaftswahlen wurden an den Universitäten lebhafte Debatten durchgeführt, viele klebten die Bilder Khatamis an Wände, andere rissen sie wieder herunter. Diesmal hat keine Wahlstimmung eingesetzt», erzählt der Medizinstudent Bardia. Auch in anderen Gesellschaftsschichten ist die Zuversicht geschwunden. Vor dem riesigen Gelände der staatlichen Fahrzeugfabrik Iran-Khodro, am westlichen Rand Teherans, sammeln sich die Busse. Schichtwechsel. Hunderte Männer verlassen das Werk, das mit über zehntausend Angestellten eines der grössten Staatsunternehmen der Region ist. Ihre Gesichter sind düster, die Reaktionen auf fremde Besucher ablehnend, mitunter aggressiv. Das Lachen ist den einfachen Arbeitern, den Mechanikern und den Elektroingenieuren, längst vergangen. Man wird beobachtet, man darf nicht auffallen, man muss seine Worte sorgfältig wählen. Der Arbeitsplatz ist kostbar, trotz der mageren Bezahlung von durchschnittlich 120 000 Tuman (rund 220 Franken) für Arbeiter und bis zu 200 000 Tuman für Akademiker. Dieser Lohn reicht nicht, um eine vierköpfige Familie zu ernähren. Doch bei der Arbeitslosenrate von über 20 Prozent wagt keiner, Ansprüche zu stellen oder den Unmut der bis heute ideologisch ausgerichteten Unternehmensführung zu provozieren. Offiziell wird seit einiger Zeit weder bei Iran-Khodro noch bei anderen Staatsunternehmen jemand eingestellt. Die hochdefizitären Betriebe lasten allzu schwer auf der Staatskasse. Sparkurs lautet die Devise. Und das in den frühen Achtzigerjahren von der damals ökonomisch linksorientierten Revolutionsführung verabschiedete Arbeitsgesetz lässt Entlassungen nur mit hohen Abfindungen zu.

Tiefes Lohnniveau Nach langem Suchen fand Ahmed vor zwei Jahren bei Iran-Khodro Beschäftigung - auf drei Monate befristet. Sie wurde zwar immer wieder verlängert, aber stets nur für wenige Monate. 50 000 Tuman bezahlt man ihm, durch Überstunden bringt er es auf etwas mehr. Ahmed ist erschöpft, böse und verzweifelt. Er mache dieselbe Arbeit wie ein Kollege, der offiziell angestellt sei und das Doppelte erhalte. 4000 Arbeiter teilen Ahmeds Schicksal in Iran-Khodro; im ganzen Land sind es Zehntausende. «Ich kann mir für meine Frau und mein Kind keine eigene Wohnung leisten. Ich brauche dringend 200 000 Tuman, aber weder das Unternehmen noch die Bank borgen mir Geld, weil ich keine fixe Anstellung habe.»

Soziale Zeitbombe Dasselbe Bild zeigt sich im armen Süden Teherans. «Die da oben sagen, wir folgen dem Koran, und es gibt keine Unterschiede zwischen den Menschen. Wir hier haben die Revolution gemacht», sagt ein 40-jähriger Arbeiter. Doch im (traditionell reichen) Norden der Stadt - wo sich unterdessen das religiös-politische Establishment niedergelassen hat - würden die Menschen immer reicher, und im Süden würden sie immer ärmer. Es brodelt unter der ruhigen Oberfläche Irans. Seit Präsident Khatami vor zweieinhalb Jahren an die Macht kam, haben sich die sozialen Nöte der Menschen verschlimmert. Noch habe er nicht ganz die Hoffnung verloren, sagt Ahmed. Andere haben die Geduld verloren, wie Frau Mahrokh, Mutter von vier Kindern. Die Inflationsrate liegt laut Schätzungen bei mindestens 40 Prozent, was die Preise in die Höhe treibt. «Ich komme mit meinem Haushaltsgeld nicht mehr zurecht. Das zählt für mich weit mehr als die Erleichterungen, die Khatami unserer Jugend beschert oder den Intellektuellen und den Medien.» Während Ahmed kommenden Freitag bei den Parlamentswahlen seine Stimme abgeben will (er muss es, will er nicht noch mehr berufliche Nachteile in Kauf nehmen, denn im Wahllokal wird ein Stempel in seinen Personalausweis gedrückt), lehnt es Mahrokh energisch ab, einem einzigen Angehörigen dieses Regimes ihr Vertrauen zu schenken. «Khatamis Weg ist ein langwieriger Prozess mit vielen Rückschlägen», meint ein Intellektueller. Doch gleichgültig, ob man an Khatami glaube oder nicht - der Präsident habe das Volk bewegt. Es werde sich unweigerlich weiterbewegen, ob es nun Khatami anführe oder ein anderer.