junge Welt, 10.2.2000

Sind Menschenrechte in der Türkei gewährleistet?

jW sprach mit der Rechtsanwältin Eren Keskin vom Türkischen Menschenrechtsverein IHD

F: Zur Zeit wird in Deutschland oft der Eindruck erweckt, daß eine Demokratisierung in der Türkei stattfindet ...

Voraussetzung für eine Demokratisierung der Türkei ist die Veränderung des Systems. Zumindest müssen Schritte in Richtung einer Zivilisierung unternommen werden. Ich kann nicht behaupten, daß Bemühungen in dieser Richtung bestehen. Die Türkei wird immer noch nach einer Verfassung regiert, die von den Militärs geschaffen wurde. Die Folge hiervon ist, daß auch die Gesetze in höchstem Grade antidemokratisch sind. Jedoch hat, insbesondere, nachdem Abdullah Öcalan in die Türkei entführt wurde, eine Diskussion über Demokratisierung begonnen. Aber es wird lediglich diskutiert, einen konkreten Schritt haben wir noch nicht sehen können.

F: Hat sich die Menschenrechtssituation verändert?

Die Verletzungen des Rechts auf unversehrtes Leben werden weiterhin begangen. Anonyme Morde und Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil werden fortgesetzt. Bei der Zahl derjenigen, die im Polizeigewahrsam verschwinden, gibt es einen relativen Rückgang. Verbote, die sich gegen die freie Meinungsäußerung richten, gibt es weiterhin. Darüber hinaus werden die Aktivitäten von Gruppen der Zivilgesellschaft, unter anderem des Menschenrechtsvereins, behindert. Die systematische Folter besteht fort. Von Monat zu Monat kann die Zahl dieser Menschenrechtsverletzungen schwanken, aber im Prinzip hat sich die Linie der staatlichen Politik nicht geändert.

F: Hier ist vor allem nach der Verhaftung von Öcalan und dem Waffenstillstand seitens der PKK der Eindruck entstanden, es gäbe keinen Krieg mehr in Kurdistan.

Von seiten der PKK ist der Krieg zur Zeit beendet, aber die kollektiven Morde an Mitgliedern und Sympathisanten der Guerilla bestehen fort, auch die militärischen Operationen in Südkurdistan werden fortgesetzt. Die Folter an Menschen, die während der Operationen gegen die PKK festgenommen werden, wird systematisch weiter angewandt. Das heißt, der Staat gesteht den Kurden nur das Recht zu, das Reuegesetz in Anspruch nehmen zu können. Da die Kurden dies aber nicht tun, setzt der Staat seine repressive Politik fort. Es gäbe jedoch die vage Möglichkeit, daß einige Veränderungen eintreten, wenn die demokratische Öffentlichkeit in ihren Bemühungen zur Beendigung des Krieges stärker wird. Die Menschenrechtsaktivisten müßten dies zur Zeit als idealistisches Ziel bezeichnen, denn meines Erachtens betreibt der Staat auch weiterhin seine Kriegspolitik.

F: In der Asyldiskussion in Deutschland gibt es immer wieder die Behauptung, Kurden könnten im Westen der Türkei eine sichere Zuflucht finden, also die Behauptung der sogenannten sicheren Fluchtalternative Westtürkei.

Das ist absolut falsch. Die Kurden können überall in der Türkei, sei es in Kurdistan, sei es in den westlichen Metropolen (gängiger politischer Terminus für die westlichen Ballungsgebiete der Türkei - Anmerkung des Übersetzers) Verfolgungen ausgesetzt sein.

F: Wie steht es mit den Gefahren für in die Türkei abgeschobene Flüchtlinge?

Diejenigen, die am meisten gefährdet sind, sind jene, die schon zuvor in der Türkei gesucht wurden. Menschen, gegen die zuvor bereits ermittelt wurde, deren Namen in irgendeiner Akte, in irgendeiner Weise aufgetaucht sind. Etwa diejenigen, deren Dörfer in Brand gesetzt worden sind, deren Angehörige sich der Guerilla angeschlossen haben. Fast alle Kurden sind mit diesem Problem konfrontiert. Die Gefahr, festgenommen und gefoltert zu werden, besteht immer. Einige Male sind wir Polizisten begegnet, die, ohne einen Grund zu haben, nur weil sie Kurden nicht mochten und jemand Kurde war, diesen folterten.

F: Sie befassen sich mit dem in Deutschland praktizierten Wanderkirchenasyl. Sind die Flüchtlinge, die in Kirchen Zufluch gefunden haben, sicherer?

Im Gegenteil. Diese Menschen sind einer besonderen Gefährdung ausgesetzt, weil in der Türkei dauernd in der Presse über sie berichtet wird. Diese Aktivitäten werden dahingehend gewertet, daß sie sich gegen die Türkei richten und sie herabsetzen. Sie alle sind infolgedessen gefährdet.

F: Was würden Sie von der Idee einer begleiteten Rückführung halten, wie das in Kreisen der (Rheinischen) Landeskirche überlegt wird. Wären sie dann nicht gefährdet? Das ist überhaupt keine Garantie, denn die meisten können innerhalb von zwei Stunden, nachdem sie aus der Polizeiwache des Flughafens freigelassen wurden, wieder festgenommen werden.

F: Die Landeskirche sagt auch, daß sie Kontakt zu Menschenrechtsgruppen in der Türkei aufnehmen wird, mit denen sie die Rückführung gemeinsam organisieren will. Wie stehen Sie dazu?

Es ist ausgeschlossen, daß der Menschenrechtsverein etwas derartiges akzeptiert, denn wir wissen, daß es in der Türkei immer noch Folter gibt, Hinrichtungen ohne Urteil, das Verschwindenlassen von Menschen. Aus diesen Gründen gibt es immer eine solche Gefährdung. Selbst wenn nur eine einzige Person gefährdet wäre, könnte der IHD derartiges nicht unterstützen.

Interview: Jochen Schüller / Markus Gross (Übersetzung: Önder Erdem)