junge Welt, 5.2.2000

»Das Regime sitzt in der Falle«

jW-Gespräch mit dem Exiliraner Mehdi Kia zu den bevorstehenden Parlamentswahlen im Iran

*Mehdi Kia ist Chefredakteur der in London erscheinenden Zeitschrift Iran Bulletin, die von der »Organisation Revolutionärer Arbeiter Irans« (ORWI) herausgeben wird

Am 18. Februar werden im Iran Wahlen zum vom »konservativen« Flügel des Regimes um Revolutionsführer Ali Khamenei beherrschten Parlament stattfinden. Dem sogenannten Reformflügel des Regimes um Staatspräsident Mohammad Khatami würde ein Erfolg bei dieser Wahl eine wesentliche Rechtfertigung für die mehr als zaghafte Realisierung der Wünsche derer, die Khatami mit so überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt hatten, nehmen.

F: Die Volksmujaheddin haben wieder einmal zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen. Als Präsident Khatami sich gegen die Studenten wandte, die im vergangenen Juli zunächst, um ihn zu unterstützen, auf die Straße gingen, hat er wohl viel Sympathie eingebüßt. Werden sich die Massen dennoch auf den Weg zum Wahllokal machen?

Eine hohe Wahlbeteiligung wird ein Sieg für die Reformisten sein, eine niedrige ein Sieg für das Bündnis von rechtem und linkem Zentrum. Die Bevölkerung hat gezeigt, daß sie sehr clever den Wahlkampf ausnutzt, um die Spaltung innerhalb der Herrschenden zu vertiefen und so mehr Luft zum Atmen zu bekommen. Was die Menschen letztlich aber tun werden, kann nicht sicher vorausgesagt werden. Das hängt davon ab, was sich in den nächsten Wochen ereignet.

Eines ist klar: Wenn die Reformisten das Rennen machen, wird das Volk den Kampf für Veränderungen wahrscheinlich über legale Kanäle führen können, andernfalls wird es eine Zunahme illegaler Aktionen geben. Wir haben schon gesehen, wie Arbeiter die Straßen blockiert, wie die Bewohner von Volksvierteln revoltiert haben. Die Leute werden nicht darauf hören, was die Volksmujaheddin sagen; sie haben bei den Präsidentschaftswahlen und zuletzt bei den Kommunalwahlen gezeigt, daß sie selbst klüger sind, als viele politische Organisationen wahrhaben wollen.

F: Sie benutzen den Begriff »Reformisten«. Einige imperialistische Regierungen, vor allem in Europa, stützen sich stark auf diese Charakterisierung, auch, um ihre zunehmenden Offerten gegenüber dem iranischen Regime zu rechtfertigen. Was bedeutet in diesem Zusammenhang z.B. die Tatsache, daß Ayatollah Khalkhali - der berüchtigte Schlächter von Kurdistan zur Zeit Khomeinis - seine Unterstützung für Khatami erklärt hat?

Es ist wirklich eine Ironie, daß solche Figuren wie Khalkhali, Fakhraddin Hejjazi oder der als »Ayatollah Ringo« bekannte gewehrschwingende Hadi Ghaffari alle auf den sogenannten reformistischen Zug aufgesprungen sind. Es sollte wirklich nicht vergessen werden, daß die heutigen »Reformisten« einen großen Anteil an den Massenhinrichtungen von 1981 - 1983, dem Massaker an den politischen Gefangenen 1988 und an vielen weiteren Greueltaten hatten. In diesen Jahren war z. B. Said Hajjarian, Redakteur von Sobh-e Emruz und Sprecher der »10. Mai- Koalition«, Verhörspezialist im Evin-Gefängnis. Darum legen sie heute großen Wert darauf, die Greueltaten von der Zeit bis 1988, als sie an der Macht waren, nicht zu erwähnen. Das gilt auch für Abdollah Nouri und für den Reform-Journalisten Jalali Pour sowie natürlich auch für Rafsanjani, der in den Mykonos-Mord in Berlin verwickelt war.

F: Was ist auf der Ebene der Wirtschafts- und sonstiger Politik im Falle eine Sieges der Khatami-Fraktion zu erwarten? Könnte die Khamenei-Fraktion damit leben oder wird sie extra-legale Mittel - vielleicht einen Staatsstreich - anwenden, um ihre Herrschaft zu sichern? Hat sie dafür überhaupt die Kraft?

Auf wirtschaftlichem Gebiet gibt es zwischen den Fraktionen gar keinen Unterschied. Alle sind damit einverstanden, das Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds durchzusetzen. Der Unterschied liegt vor allem im Politischen. Daß die Khamenei- Fraktion zu gewaltsamen Mitteln greifen wird, um ihre Macht zu verteidigen, kann nicht ausgeschlossen werden. Der Fraktionskampf wird auf jeden Fall weitergehen, gleich, wie die Wahlen ausgehen. Diesem Kampf liegt nämlich der Druck von unten zugrunde und die Unfähigkeit der politischen Struktur, die die Islamische Republik charakterisiert, darauf eine Antwort zu finden. Der fundamentale Widerspruch zwischen einem Kalifat - ausgedrückt in der Existenz eines religiösen Herrschers mit gottähnlicher Machtvollkommenheit - und einer Republik - symbolisiert durch einen amtierenden Präsidenten ohne wirkliche Macht - ist grundsätzlich für die Instabilität des Regimes. Die eine Seite muß die andere eleminieren. Wir haben es hier mit einem politischen System zu tun, das strukturell unfähig ist, irgendeine Wirtschaftspolitik erfolgreich durchzuführen. Die Khamenei-Fraktion hat viel zu verlieren. Ob sie z.B. einen Putsch macht, hängt nur davon ab, ob sie sich einen Erfolg ausrechnet. In diesem Fall wird es ein grausiges Blutbad geben.

F: Nach dem Aufstand der Studenten im Juli und nach seiner Niederschlagung wurde erwartet, daß sich die Studenten bald wieder reorganisieren und erneut in die Offensive gehen würden. Es scheint, daß nicht nur die Repression, sondern auch die Orientierung auf die jetzt anstehenden Wahlen dazu beigetragen haben, daß es im Grunde nicht dazu gekommen ist. Was werden die Wahlen in dieser Hinsicht für eine Auswirkung haben?

Die Studentenbewegung hat zwei Schläge erhalten. Der eine war das schnelle Durchgreifen der Repressionskräfte und die nachfolgenden Todes- und Haftstrafen. Der andere war die Spaltung der »10. Mai-Koalition«. Es ist aber offensichtlich, daß die Studentenbewegung dabei ist, wieder an Kraft zu gewinnen. Zahlreiche Streiks und Demonstrationen in Universitäten überall im Land, der Hungerstreik der Studenten in den Gefängnissen von Evin und Tabriz und die Unterstützung, die sie dafür von draußen bekamen, sprechen alle für eine Frustration und den Willen, für ihre Ziele nicht nur im Rahmen des Gesetzes zu kämpfen.

Das gleiche gilt auch für die Arbeiterbewegung. Die Entwicklung in diese Richtung wird sicher beschleunigt, wenn die konservative Fraktion im Parlament die Oberhand behält.

F: Welche Haltung nehmen die Arbeiter ein?

Die desperate wirtschaftliche Situation bringt es mit sich, daß die Arbeiter vor allem für ihr Überleben kämpfen. Im Januar demonstrierten Arbeiter der Ganjeh- und der Azadegan-Schuhfabrik, weil sie seit zehn Monaten keinen Lohn mehr erhalten hatten, und das ist üblich. Die Röhrenhersteller in Ahwas haben ihren Lohn seit sechs Monaten nicht bekommen, und 300 Holzarbeiter sind seit zwei Jahren nicht bezahlt worden. Letztes Jahr haben die Arbeiter durch landesweite Demonstrationen am 1. Mai die Regierung daran gehindert, Schutzregelungen des Arbeitsgesetzes für Betriebe mit bis zu drei Beschäftigten aufzuheben. Dieses Jahr hat man zu solchen neuen Taktiken gegriffen wie der Blockierung der Straße von Rasht nach Ghazwin. Im Dezember fand ein landesweiter Protest gegen die Sozialversicherungsbehörde statt, obwohl er verboten worden war. Auch die Ölarbeiter haben wieder offen protestiert. Es kam in einzelnen Fällen zu physischen Auseinandersetzungen mit den Geschäftsführungen.

Die Arbeiter werden also militanter, obwohl das Machtverhältnis und die große Arbeitslosigkeit - nach offiziellen Zahlen haben nur 36 Prozent der aktiven Bevölkerung einen Arbeitsplatz - sie deutlich in die Defensive verweisen.

F: Die jüngsten Zusammenstöße in Ramhormuz haben gezeigt, daß sogar die paramilitärischen islamistischen Kräfte in gewissem Maß recht militant den Groll der arbeitenden Massen zum Ausdruck bringen können, zu denen sie im allgemeinen selbst gehören. Bedeutet das, daß die soziale Basis des Regimes - selbst die organisierte und gewissermaßen privilegierte - im Begriff ist, sich zu zersetzen?

Die Riots in der Teheraner Vorstadt Eslam Shahr, der Ölstadt Ramhormuz am Golf oder in Tabriz aus Protest gegen die Eliminierung ihrer bevorzugten Kandidaten für die Parlamentswahlen liegen auch auf der gleichen Linie. Die Bevölkerung, die keine Möglichkeit mehr sieht, ihre gerechten Forderungen im Rahmen der Gesetze zu verwirklichen, brennt staatliche Büros und Autos nieder. Unter solchen Umständen sind auch die Paramilitärs einem starken Druck ausgesetzt.

Eine Armee mit Wurzeln im Volk kann nicht über lange Zeiten hinweg mit Gewalt gegen ihre Brüder, Väter und Cousins vorgehen. Das Beispiel der Revolution gegen den Schah ist hier lehrreich. Man darf allerdings auch nicht außer Acht lassen, daß die paramilitärischen Kräfte hochideologisiert sind. Was aber interessant ist, ist die Tatsache, daß gewalttätige Angriffe auf Paramilitärs seitens der normalen Bevölkerung zunehmen, wo diese sich in das Alltagsleben der Leute einmischen. So wurden gerade erst im Januar bei zwei verschiedenen Gelegenheiten zwei Paramilitärs umgebracht, weil sie versucht hatten, Leute daran zu hindern, das Fasten zu brechen, oder Frauen wegen der Übertretung des offiziellen Kleidervorschriften zu verwarnen.

Erstaunlich ist folgendes: Das Regime hat versucht, aus dem Fall der Jugendlichen, die die Paramilitärs umgebracht haben, ein abschreckendes Beispiel zu machen, indem es sie in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilte. Es konnte aber aufgrund der breiten Ablehnung durch die öffentliche Meinung dieses Urteil nicht vollstrecken. Fakt ist, daß das Regime, das vor kurzem noch jeden umbringen konnte, wie es ihm beliebte, das nicht mehr kann. Das gleiche gilt auch für die Todesurteile, die im Zusammenhang mit dem Studentenaufstand vom Juli verhängt worden waren.

Am deutlichsten wurde die völlige Ablehnung der staatlichen Gewaltpolitik durch die Bevölkerung zu Silvester auf dem Imam-Hossein-Platz in Teheran. Dort stand der 17jährige Morteza Amini, der einen Paramilitär umgebracht hatte, der dagegen protestierte, daß Morteza im Fastenmonat Ramadan öffentlich das Fasten gebrochen hatte, ein halbe Stunde lang mit dem Strick um den Hals unter dem Galgen. Tausende Passanten brachten ihre Empörung über die drohende Hinrichtung zum Ausdruck und verhinderten sie. Die Unfähigkeit des Regimes, das Urteil zu vollstrecken, mag eine Ankündigung dessen sein, was vor uns liegt.

Das Gespräch führte Anton Holberg/AP-Foto: Enric Marti