Neue Züricher Zeitung, 2.2.2000

Die türkischen Islamisten in Schwierigkeiten

Ein neues Parteiverbot von der Armeespitze angedroht

Die offenbar von der islamistischen Untergrundorganisation Hizbullah verübten Morde sowie deren Beweggründe stehen seit zwei Wochen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte in der Türkei. Die Frage, ob die extremistischen Gotteskrieger von staatlichen Stellen unterstützt wurden, hat zu einem heftigen Streit zwischen der Armeespitze und der legalen islamistischen Tugendpartei geführt. Die Generäle drohten ihr mit einem neuen Parteiverbot.

it. Istanbul, 1. Februar

Die Bilder von grausam misshandelten, offenbar von der Untergrundorganisation Hizbullah ermordeten Opfern flimmern seit zwei Wochen alltäglich über den Bildschirm, füllen die Frontseiten der Tagespresse und bewegen die Gemüter in der Türkei. Beinah täglich stösst die Polizei auf neue Leichen. Laut einer Erklärung des Innenministeriums vom Montag ist die Zahl der ausgegrabenen Opfer auf 48 gestiegen. Bei den landesweiten Razzien seien ferner insgesamt 938 Verdächtigte in Gewahrsam genommen worden. Die Operationen der Polizei konzentrieren sich allmählich in Südostanatolien, wo die ruchlose Mörderbande der islamistischen Gotteskrieger im letzten Jahrzehnt besonders aktiv war. Die Frage, ob der türkische Hizbullah, der mit der gleichnamigen libanesischen Organisation nichts zu tun hat, von staatlichen Stellen als Instrument gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt wurde, hat eine öffentliche Debatte ausgelöst und zu einem unerwartet heftigen Streit zwischen der Armeespitze und der legalen islamistischen Tugendpartei geführt.

Ein alter Konflikt neu entflammt Der Streit wurde durch eine Rede des Islamistenchefs Recai Kutan ausgelöst. Gewisse Kreise in der Türkei versuchten, die blutrünstige Terrororganisation mit dem politischen Islam gleichzusetzen und alle Islamisten in den Dreck zu ziehen, sagte er an einer Sitzung seiner parlamentarischen Parteifraktion am letzten Mittwoch. Wie ein Grossteil der türkischen Islamisten glaubt offenbar auch Kutan, dass die Hizbullah-Affäre in der Türkei inszeniert worden sei, um die Tugend-Partei zu schwächen. Doch, so sagte Kutan, der Hizbullah sei in der Stadt Batman zu einem Zeitpunkt gegründet worden, als nicht mal ein Vogel ohne das Wissen der Sicherheitskräfte fliegen durfte. Der Staat habe keine Zeit verloren, um seine Panzer auf sieben islamistische Schauspieler in Sincan zu richten. Warum brauchte er aber so lange, um die Mörderbande auszuheben?

Mit seiner emotionellen Rede hatte der weisshaarige Parteichef den unbewältigten Konflikt zwischen den türkischen Islamisten und der Armeeführung wieder voll entflammt. Die türkischen Generäle hatten bei ihrer letzten massiven Intervention in die Politik Anfang 1997 ihre Panzer durch das Ankaraner Aussenviertel Sincan rollen lassen und wenige Monate später den ersten islamistischen Regierungschef der Türkei, Necmettin Erbakan, zum Rücktritt gezwungen. Im Januar 1998 wurde auch Erbakans Wohlfahrtspartei verboten. Die heutige Tugend-Partei ist die Nachfolgerin der Refah. Die Partei muss damit rechnen, jederzeit wieder verboten zu werden.

Warnung der Generäle Kutans Verdacht bezüglich der Rolle des Staates in der Hizbullah-Affäre wird auch von anderen führenden Politikern geteilt. Präsident Demirel hatte zwar bereits öffentlich eine direkte Verbindung zwischen dem Staat und dem Hizbullah dementiert. Er schloss aber nicht aus, dass einige Kräfte des Staates illegal gehandelt haben könnten. Auch der konservative Koalitionspartner der gegenwärtigen Regierung, Yilmaz, räumte ein, dass es einer Organisation wie dem Hizbullah nicht möglich gewesen sei, seine Taten zu verüben, ohne mit Verrätern innerhalb des Staates zusammenzuarbeiten und von ihnen unterstützt zu werden. Der Islamistenführer Kutan beging allerdings den Fehler, entgegen den Gepflogenheiten des Landes offen über eine direkte Verfilzung der Sicherheitskräfte mit der illegalen Organisation zu sprechen.

Die Antwort der Armeeführung liess nicht auf sich warten. In einer öffentlichen Erklärung drohten die Generäle den Islamisten offen, ihre Partei erneut zu verbieten. Die letzten Ereignisse hätten einmal mehr bewiesen, dass der radikale Islam für die Nation die grösste Gefahr darstelle, hiess es. Politische Parteien, die diese Mentalität verträten, seien vom Verfassungsgericht schon dreimal verboten worden. Der Tonfall der Erklärung erinnerte an die Tage von 1997, als der Konflikt zwischen der Armeeführung und der islamistischen Bewegung einen Höhepunkt erreicht hatte. Aus Angst vor einem neuen Verbot zeichnen sich nun Risse in der Islamistenpartei ab. Während ein Teil der Abgeordneten den Rücktritt des Parteichefs fordert, besteht ein weiterer Flügel auf dem Recht, die Fehler nationaler Institutionen kritisieren zu dürfen. Die Selbstsicherheit und die Dynamik, welche die Bewegung des politischen Islam in der Türkei zu Beginn der neunziger Jahre kennzeichneten, sind verschwunden.

Unbehagen über die Reaktion der Armee In manchen diplomatischen Vertretungen in Ankara hat die Reaktion der Armeeführung Unbehagen ausgelöst. Der unverhältnismässig grosse Einfluss der Armee auf die Politik des Landes wurde westlichen Regierungen oft als eines der grössten Hindernisse für einen Anschluss der Türkei an die EU genannt. In einem Bericht vom Oktober der Vorjahrs bemängelte etwa die EU- Kommission, dass die türkische Armee den Nationalen Sicherheitsrat dazu benütze, um das politische Leben weitgehend zu beeinflussen. Der Nationale Sicherheitsrat, der sich aus Mitgliedern der zivilen und der militärischen Staatsführung zusammensetzt, ist gemäss Verfassung ein konsultatives Organ. In den letzten Jahren wurden aber die wichtigsten Entscheide in der Innen- und Aussenpolitik und in der Verteidigungsstrategie in diesem Forum getroffen.

Nach der letzten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am Montag hat die zivile Staatsführung den Wortlaut der Generäle über die Hizbullah-Affäre vollständig übernommen. Die Bemühungen, die radikale islamistische Terrororganisation mit dem Staat und seinen Sicherheitskräften in Verbindung zu bringen, sei das Werk jener, welche die Kriminellen unterstützten, hiess es in einer gemeinsamen Erklärung. Damit wurde die islamistische Tugendpartei, die anfänglich aus der Aufklärung der Hizbullah-Affäre politischen Gewinn zu ziehen hoffte, offiziell als moralische Urheberin der grausamen Morde gebrandmarkt.