Süddeutsche Zeitung, 1.2.2000

Willkür und Missbrauch

Das traurige Schicksal der "Kinderflüchtlinge"

Steffen Angenendt ist empört über "das Ausmaß der Missachtung von Kinderrechten" in Deutschland. Gemeint ist das Schicksal junger Flüchtlinge. Angenendt hat ausreichend Informationen gesammelt, um seine These belegen zu können. Knapp ein Jahr lang ist er kreuz und quer durch die Republik gereist. Er hat sich mit Vertretern der Ausländer- und der Gesundheitsbehörden getroffen, hat in Sammelunterkünften und bei Betreuungspersonal recherchiert, und er hat sich von den Betroffenen selbst berichten lassen. Über 300 Interviews hat er geführt, um sich kundig zu machen. Jetzt hat Angenendt, Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, das bestürzende Ergebnis seiner Recherchen auf einem Symposium in München vorgestellt.

Weltweit 15 Millionen

Angenendt ging der Frage nach, wie deutsche Behörden mit Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter umgehen, die mutterseelenallein unterwegs sind und Schutz in der Bundesrepublik suchen. Nach offiziellen Schätzungen sind weltweit etwa 15 Millionen Kinder auf der Flucht. Rund 100 000 dieser "unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge" - im Behörden-Deutsch UMF abgekürzt - haben in einem der europäischen Länder Unterschlupf gefunden. In Deutschland wird ihre Zahl auf 5000 bis 10 000 geschätzt. Bezeichnenderweise verfügt keine Behörde und kein Ministerium über genaue Zahlen.

Allein an den Außengrenzen Bayerns tauchen jährlich zwischen 800 und 1000 Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter auf, die nicht von Erwachsenen begleitet werden. "Die Zahlen sind seit Jahren konstant", sagt Thomas Gittrich vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Angesichts des weltweiten Problems hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammen mit der International Save the Children Alliance in Europa Standards zum Umgang mit den Kinderflüchtlingen festgelegt. Diese 1998 formulierten Richtlinien basieren überwiegend auf der UN-Kinderrechtskonvention.

Vor dem Hintergrund der in den nächsten zwei Jahren angestrebten Harmonisierung des Asylrechts in der EU läuft derzeit eine Untersuchung in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union, wie sie es mit der Einhaltung der Standards für Kinderflüchtlinge halten. Mit der vom Kinderhilfswerk Unicef unterstützten Untersuchung in Deutschland wurde Steffen Angenendt betraut.

Die Mängelliste in Angenendts Studie ist lang und niederschmetternd. Da ist von "Willkür" der Jugend- und Gesundheitsbehörden die Rede, wenn es um die Altersbestimmung der meist ohne Pässe reisenden Kinder und Jugendlichen geht, was gravierende rechtliche Auswirkungen auf den weiteren Umgang mit diesen Flüchtlingen hat.

Beklagt wird, dass die Minderjährigen oft nicht in betreuten Jugendeinrichtungen untergebracht, sondern, weitgehend mit ihren Problemen allein gelassen, zu fremden Erwachsenen in Sammelunterkünfte gesteckt werden. Angenendt berichtet - unter Berufung auf Sozialarbeiter, die nicht zitiert werden wollen -, dass es in diesen Sammelunterkünften zu "sexuellen Übergriffen" auf die Jugendlichen kommt, "von denen insbesondere Mädchen betroffen" seien. Weiter heißt es: Die Unterbringung in solchen Gemeinschaftsunterkünften sei für manche orientierungslose Jugendliche ein "Einstieg in eine kriminelle Karriere".

Manche Kommunen wiederum bringen die unbegleiteten Kinder- und Jugendflüchtlinge in Pensionen unter, wo sie der Kontrolle durch Sozialarbeiter aber meist entzogen seien. Diese Situation machten sich kriminelle Organisationen zu Nutze, die in diesen Pensionen ihren "menschlichen Nachschub für ihre Diebesbanden rekrutieren".

An anderer Stelle der Studie wird moniert, in vielen Städten würden für die Jugendlichen "nicht selten" und entgegen den Vorschriften keine Vormünder bestellt - mit der Folge, dass sie ihre Asylverfahren "häufig ohne juristische Betreuung und persönlichen Beistand" führen müssen. Ohnehin nehme das deutsche Asylverfahren auf die spezielle Problematik der Kinderflüchtlinge keine Rücksicht.

Die Minderjährigen, so stellt Angenendt in seiner Studie fest, seien bei den Befragungen im Asylverfahren "häufig intellektuell und emotional überfordert". Die Tragweite des Verfahrens sei ihnen oft unklar, die an sie gestellten Fragen seien ihnen oft unverständlich. Es falle ihnen schwer, Daten und Zusammenhänge darzustellen, die für die Bewertung ihres Asylgesuchs entscheidend seien. Kindgerechte Asylverfahren, wie sie in den Standards gefordert werden, seien unabdingbar.

Scharf ins Gericht geht die Studie mit der deutschen Abschiebepraxis für unbegleitete Minderjährige. Es werde "häufig gegen alle Grundsätze verstoßen", heißt es dazu in der Untersuchung. In Berlin etwa, so ergaben Angenendts Recherchen, haben sich im Frühjahr 1998 81 Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren in Abschiebehaft befunden. Und in Halle hat sich im November 1998 ein 16-jähriger indischer Abschiebehäftling nach sechswöchiger Einzelhaft erhängt. Obwohl nach Ansicht des UNHCR die regelmäßige Inhaftierung von Minderjährigen gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, halten sich laut der Studie die meisten Bundesländer nicht an diese Konvention.

Beanstandet wird schließlich der unzureichende Aufenthaltsstatus der jungen Flüchtlinge, die oftmals nur geduldet seien. Die Folge: Sie lebten in ständiger Angst vor der Abschiebung, seien kaum motiviert für einen Schulbesuch. Eine Berufsausbildung sei ihnen ebenfalls verwehrt, weil sich kein Betrieb auf Menschen mit ungewissem Aufenthalt einlassen wolle. Dies führe zu Orientierungslosigkeit und schweren psychischen Störungen bei den Kindern und Jugendlichen, deren spätere Rückkehr in ihre Heimat so erschwert werde.

"Wirklich Handlungsbedarf"

Die zentrale Forderung der Studie lautet: Die Bundesrepublik Deutschland muss endlich ihren Vorbehalt gegen die von ihr unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen und sie in nationales Recht umsetzen. "Es besteht wirklich Handlungsbedarf", unterstrich Angenendt bei der Vorstellung seiner Studie auf dem Symposium in München.

Nachdem sich Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), trotz des Bundestagsbeschluss vom Herbst vorigen Jahres, hartnäckig weigert, eben diesen Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention aufzugeben, bahnt sich in Berlin ein Konflikt zwischen den rot-grünen Bundestagsfraktio-nen auf der einen und der Bundesregierung auf der anderen Seite an. "Der Beschluss muss umgesetzt werden", hat die Grünen-Abgeordnete Ekin Deligöz in München bekräftigt. Schilys bisherige Weigerung in dieser Frage soll spätestens im Frühjahr in der Koalitionsrunde zur Sprache kommen. Ändert sich dann nichts, wollen die Grünen Druck machen. Ekin Deligöz kämpferisch: "Die Fraktion steht geschlossen in der Frage der Kinderflüchtlinge."

Auch der UMF-Bundesfachverband appellierte noch einmal an die Bundesregierung, das Thema doch noch ernst zu nehmen. Sprecher Thomas Gittrich: "Wenn das Asylrecht in der EU harmonisiert wird, muss auch an die Kinderflüchtlinge gedacht werden."

Christian Schneider