Frankfurter Rundschau, 29.1.2000

Wachdienst für die Weltgemeinschaft

Warum es auch nach dem Holocaust noch Genozide gibt / Michael Naumann schlägt die Gründung einer "Völkermordfrühwarnstation" vor

Warum hat es nach dem Holocaust noch weitere Genozide gegeben - und warum hat die Weltgemeinschaft sie nicht verhindert? Mit dieser Frage setzt sich Michael Naumann auseinander. Um solche Genozide künftig schon im Ansatz zu verhindern, schlägt er die Einrichtung einer Frühwarnstation vor. Der Staatsminister für Kultur im Bundeskanzleramt sprach am Freitag bei der Internationalen Konferenz über den Holocaust in Stockholm. Wir dokumentieren die Rede Michael Naumanns in einer vom Autor überarbeiteten Fassung.

I.

Ich möchte mit einer Verlegenheit beginnen, mit einer Unruhe, die jeden erfasst, der über den Mord an den Juden Europas nachdenkt. Wir wollen über politische - und das heißt heute ethische - Konsequenzen aus der Geschichte des Holocaust sprechen. Und wir sind doch mit der Diagnose nicht fertig. So klagt einer der begabtesten jungen deutschen Historiker, Ulrich Herbert: "Da es keine Theorie des Holocaust gibt (. . .) ist es im Grunde immer nur wieder die Auseinandersetzung mit dem Geschehen selbst, die das Bedürfnis nach Aufklärung stillen kann. Nur die Unbegreiflichkeit zu konstatieren, führt (. . .) ins Leere." Es ist freilich die Klage eines Historikers, dem die Bild und Text gewordenen Daten des Grauens keine Antworten geben auf seine Fragen. Der Holocaust droht, zur Metapher des Unerklärlichen zu verblassen. Leider wissen wir heute, dass die schockhafte Konfrontation mit dem Ur-Verbrechen dieses Jahrhunderts in den Vernichtungslagern der SS keineswegs eine universal folgenreiche Rückbesinnung aller Menschen auf den manifesten Verlust von Menschlichkeit zur Folge hatte - eine Besinnung, die eigentlich zu erwarten gewesen wäre.

Und diese Enttäuschung hat wenig zu tun mit der unzulänglichen strafrechtlichen Sühne der Mordtaten, sondern alles mit den unbeantworteten Fragen nach ihren geistigen und gesellschaftlichen Wurzeln.

Was ist der Kern jener Menschlichkeit, die im Holocaust zerstört werden sollte? Wem genau galt der Furor der Aggression? Darüber gilt es weiter nachzudenken; denn die Ratlosigkeit ist groß. Eberhard Jäckel, ein Nestor der Hitlerforschung, hat den Grund solcher Ratlosigkeit in der unzureichenden Würdigung des deutschen Diktators gefunden: "Man wird sich noch einmal Hitler zuwenden müssen. (. . .) An der Spitze stand Hitler allein!" Aber wer waren dann all die anderen Mörder? Wer die Juristen, die Pastoren, die Offiziere, die Lehrer, die deutsche Funktionselite des "Dritten Reichs"? Und was waren ihre Motive?

"Das Böse" an sich - so vermutet Joachim Fest mittlerweile - habe sich in der Person Hitlers einer durch und durch säkularisierten Welt in blutige Erinnerung gerufen. Dass dieser als "metaphysisch" ironisierte Theorieansatz einem stillen Diskussionsverbot unterstellt werden würde, war abzusehen; denn säkularisiert ist die Welt in der Tat und die in ihr agierende Wissenschaft von der Gesellschaft allemal. Hatte uns die empirische Verhaltensforschung nicht gelehrt, vom "sogenannten Bösen" rückzuschließen auf naturwissenschaftlich exakt erklärbare Evolutionsmechanismen?

Wenn man mit der Antwort "Hitler" nicht weiterkomme bei der Suche nach dem "Warum", so sagen wiederum andere Autoren (zum Beispiel Daniel Goldhagen), könne man vielleicht mit einer Charakteranalyse des deutschen Volkes zu endgültigen Aussagen kommen. Wenn es wirklich die grausamste und judenfeindlichste Menschenansammlung der Geschichte gewesen ist, dann erkläre sich daraus der Holocaust fast wie von selbst.

Nun mag es sein, dass niemand jemals grausamer und judenfeindlicher war als die Deutschen. Aber eine vergleichende Grausamkeitsforschung, die da Klarheit schaffen könnte, gibt es nicht. Der größte Teil der Menschheitsgeschichte liegt im Dunkeln, die Rituale der Menschenopfer und Infantizide beschäftigen allenfalls die archäologische Anthropologie. Gleichwohl gälte es zu fragen: Was ist der Kern einer massenhaften, organisierten Unmenschlichkeit?

Was sollen die Eltern ihren Kindern, die Lehrer ihren Schülern, die Professoren ihren Studenten, die Journalisten ihren Lesern und die Politiker ihren Wählern sagen, wenn unsere besten Fachgelehrten selbst nicht weiter wissen?

Nun sucht seit einem halben Jahrzehnt ein Völkermordforscher, der deutsche Gelehrte Gunnar Heinsohn, einen Ausweg aus diesem Dilemma. Er betreibt eine etwas aus der Mode gekommene Disziplin, die man als kritische Geistesgeschichte beschreiben kann; der Begriff "kritisch" steht für sein offensichtliches Bemühen, sich jedem religiös-fundamentalistischem Transzendentalismus zu entziehen - eine Art negative Theologie.

Heinsohn ruft uns in Erinnerung, dass die Zivilisation Europas und Amerikas auf vier Pfeilern ruhe - zwei jüdischen und zwei griechischen. Aus dem Judentum kommen die Wahrheit der Lebensheiligkeit und der Eingottglaube, aus dem alten Hellas das Prinzip des Eigentums und der Einehe.

Immer wieder ist in unserer Geschichte an diesen Pfeilern gerüttelt worden. Allein Hitler-Deutschland jedoch machte sich zwischen 1933 und 1945 bewusst, das heißt mit geheimen Reichserlassen und offener Gesetzgebung, daran, das höchste dieser Prinzipien, die Heiligkeit des Lebens, wieder abzuschaffen. Das "Dritte Reich" führte einen paganen Kreuzzug wider zwei Religionen - die jüdische und die christliche: genauer, einen Hakenkreuzzug, dessen unheilige Urgewalt als Manifestation einer hochtechnisch bewaffneten, entgleisten Moderne das Bild unserer Zivilisation nachhaltig verdunkelte. Mit der Ermordung des Judentums sollte seine Religion schlechthin vernichtet werden. Die Deutschen sollten ohne fromme Gewissensnot den slawischen Lebensraum bis zum Ural mit seinen hundert Millionen Menschen "ausmerzen", aber auch behinderte oder schwer kriegsverletzte Deutsche und andere "Untüchtige" in der Heimat skrupellos beseitigen können.

Das Judentum - als Religion und als lebendige Menschengruppe - sollte niemals wieder den deutschen Tötungswillen "zersetzen". Auch deshalb hatte Hitler zuerst die Entfernung der Juden aus dem deutschen Machtbereich und schließlich ihre physische Vernichtung beschlossen.

Aus diesem Blickwinkel würde zugleich verständlich, warum auch jeder Nichtjude verfolgt wurde, der das jüdische Erbe der Lebensheiligkeit im christlichen Glauben verteidigte. Er musste dafür allerdings aktiv werden, sich sichtbar als "verjudet" erweisen.

Ein Jude hingegen konnte nicht einmal durch Abschwören seiner Ethik auf Schonung rechnen: So verbündete sich der ideologische Rassismus des 19. Jahrhundert mit dem politisch-religiösen Heilsprogramm der Nationalsozialisten. Als eine Art Volksbiologe bedrängte Hitler am 21. Juli 1941 - die Massenvernichtung der Juden war seit einem knappen Monat (25. Juni 1941) im Gange - den faschistischen kroatischen Kriegsminister Kvaternik: "Wenn auch nur ein Staat (der Achse) aus irgendwelchen Gründen eine jüdische Familie bei sich duldet, so würde diese der Bazillenherd für eine neue Zersetzung werden."

Eugen Stähle - ministerialer Aufseher der württembergischen Klinik Grafeneck, in der vom September 1939 an behinderte Deutsche vergast wurden - wies am 4. Dezember 1940 den Stuttgarter Oberkirchenrat Reinhold Sautter zurück, der ihn in einem privaten Gespräch die Tötung so genannten "lebensunwerten" Lebens vorgehalten hatte. Stähle erwiderte kühl: "Das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung."

In der Tat, das Kinder, Behinderte, Kranke und Alte einschließende Tötungsverbot war ein zentraler Beitrag des Judentums zur Zivilisation, war Abschied von archaischen Ritualen des Menschenopfers. In einem Satz, die systematische Vernichtung des jüdischen Glaubens an den Lebensschutz als dem höchsten menschlichen Prinzip bildete das ideologisch-terroristische Kraftzentrum des Holocaust.

Jeder Historiker des Nationalsozialismus könnte unzählige Belegstellen dieses Sachverhalts versammeln - gleichwohl blieb es Zeitgenossen Hitlers, genauer, seinen Opfern, vorbehalten, die angeblich unerklärliche Herkunft dieses Terrors beim Namen zu nennen: "Das Böse" von Auschwitz wurde dort erkannt, wo es in seiner Unfassbarkeit Gewissheit würde. In der sprachlosen Trauer der Überlebenden, in ihrem jahrzehntelangen Schweigen, erklärte sich ihre Erfahrung im "Herzen der Finsternis". Eine junge Jüdin, die an einem schuldigen Zeugen einer Massenermordung nackt vorüberging, wies auf ihren Körper und sagte: "18 Jahre". Sie meinte: Mein Leben, mein unschuldiges Leben.

II.

Wenn diese Überlegungen stimmig sind, dann verstand Hitler selbst sich keineswegs als historisch maßlosesten Übertreter des Gesetzes der Lebensheiligkeit, sondern als dessen Beseitiger. Hitler hätte bei einem denkbaren militärischem Sieg ein Recht auf Völkerbeseitigung geschaffen und somit die gültige Völkerrechtsordnung umgeworfen. Zumindest die ersten Versammlungen der Vereinten Nationen nach 1945 scheinen ihn genau so verstanden zu haben. Bekanntlich haben sie im Dezember 1948 - bei ihren Sitzungen im Pariser Palais Chaillot - den Opfern des Holocaust in nur zwei Tagen zwei wegweisende Denkmäler errichtet, und zwar durch internationale Gesetze mit völkerrechtlich bindender Kraft. Allerdings fehlten die dazugehörigen Sanktionsmechanismen.

Dem historischen, nationalsozialistischen Schritt zur Abschaffung des Tötungsverbotes wurde am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als höchstes Prinzip entgegengestellt: "Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person!" (Artikel 3). Im 2. Satz der Präambel wurde der Holocaust, der "Akt der Barbarei", als unmittelbarer Anlass für die Erklärung kenntlich gemacht.

Das Osloer Nobelpreiskomitee verlieh im Jahre 1968 Rene Samuel Cassin (1887-1976) den Friedenspreis. Er war der eigentliche Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Vor Hitler-Deutschland hatte er nach London fliehen können. Mit seinem Gesetz änderte Cassin nicht umgehend den Lauf der Welt, aber er formulierte den - seitdem auch nie mehr ernsthaft in Frage gestellten - Anspruch auf eine neue Epoche, also auf eine ethische Erneuerung der zivilisierten Gemeinschaft aller Staaten. Denn nunmehr unterstanden nicht nur die Deutschen von neuem dem Gebot "Du sollst nicht töten", sondern alle Völker der Erde.

Ihr zweites Denkmal für die Opfer des Holocaust errichteten die Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948, einen Tag vor der Menschenrechtserklärung. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes führt in ihrem Artikel 2 die Ausrottungsverfahren der Nationalsozialisten minutiös auf:

"(2 a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe (i.e. Vergasung, Erschießung, Injektionen); (2 b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe (i.e. Konzentrationslagerhaft, medizinische Experimente etc.); (2 c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (i.e. Ghettoisierung, Vernichtung durch Arbeit, Todesmärsche); (2 d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind (i.e. Zwangssterilisation); (2 e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe (i.e. "Umvolkung" blonder Slawenkinder).

All diese Eliminationsverfahren wurden der ganzen Menschheit verboten. Nirgendwo sollte sich noch einmal ein Staat oder ein Diktator ein Recht auf Völkermord anmaßen. Was Cassin für die Menschenrechtserklärung leistete, schaffte Raphael Lemkin (1900-1959) für die Völkermordkonvention. Der polnische Jurist und Jude askenasischer Herkunft war vor Hitler-Deutschland über Stockholm und London in die Vereinigten Staaten in Sicherheit gebracht worden.

Im Jahre 1943 hatte er für die polnische Exilregierung in London dem Menschheitsverbrechen erstmals einen Namen gegeben: Ludobojstwo (von lud = Volk und zabojstwo = Mord). Im Jahre 1944 transponierte er den polnischen Terminus ins Englische als genocide (von griechisch genos = Volk und lateinisch caedere = töten). Bis dahin behalf man sich mit dem 1915er Terminus "crimes against humanity", der im Deutschen als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wiedergegeben wird, obwohl "Verbrechen gegen die Menschheit" gemeint war.

III.

Dass Lemkins Völkermordkonvention im Jahre 1948 in der UNO einstimmig verabschiedet wurde, hatte einen Preis. Lediglich "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen" (Einleitungssatz von Artikel 2) sind gegen Tötungen zu schützen. Politische und ökonomische Opfergruppen werden nicht erwähnt. Wie steht es heute mit der Wirkung der Völkermordkonvention für die von ihr ausdrücklich geschützten Minderheiten? Einfach ist das nicht zu ermitteln; denn die vergleichende Völkermordforschung ist keine 30 Jahre alt. Sie beginnt systematisch erst im Jahre 1972 mit Gil Elliotts Buch The Twentieth Century Book of the Dead. In Kanada und den USA beginnen Ein- oder Zweipersoneninstitute - meist von akademischen Außenseitern gegründet - Ende der achtziger Jahre mit entsprechenden Forschungen. In Europa entstand die erste einschlägige Einrichtung vor sieben Jahren an der Universität Bremen, andere sollten folgen.

Seit der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 sind mindestens einhundert genozidale Akte nachweisbar. Die Tutsis, die Bosnier, die Kurden, die Timoresen und Chinesen Indonesiens sowie die Dinka, Naga und Nuba Sudans sind sogar mehrfach betroffen. Im amazonischen Regenwald Brasiliens ging es zwischen den sechziger und achtziger Jahren gegen fünfzehn Naturvölker. Die Cintas Largas zum Beispiel wurden von 10 000 auf 500 Menschen reduziert. Ein kleines Volk - gewiss - und wer von uns hörte je seinen Namen? Aber bei einer 95prozentigen Auslöschung bleibt es in seinem Leiden auf furchtbare Weise unerreicht.

Das Schreckensregime Pol Pots in Kambodscha ist weithin bekannte Geschichte. Der verantwortliche Massenmörder starb im eigenen Bett. Nach 1945 - bei der Vertreibung von über 14 Millionen - wurden auch 2,1 Millionen Deutsche, Zivilisten allemal, in sieben Ländern Europas zu Tode gebracht. Vor allem schwedische und schweizerische Journalisten haben damals über die Entsetzen berichtet. Wir Deutsche haben immer noch eine Scheu, diese Toten öffentlich zu erwähnen. Aber wir beklagen sie. Das dumpfe Gefühl, eine verdiente Rache erlitten zu haben und die Entschlossenheit, nicht aufrechnen zu wollen, spielen dabei gleichermaßen eine Rolle.

Aber das Schweigen tut denjenigen Europäern und Weltkriegssiegern Unrecht, die nach 1945 zwar deutsche Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen haben, nicht jedoch selbst zu Verbrechen an Deutschen übergegangen sind. Nachzustreben gilt es denjenigen, die sich von der Rache zum Recht emanzipiert haben.

IV.

Warum konnte es auch nach dem kläglichen Selbstmord Hitlers mit Völkermorden so scheinbar ungehemmt weitergehen? Warum konnten die gewaltigen Kräfte, mit denen Deutschland und das Japan Tojo Hidekis niedergerungen wurden, auf einmal nicht mehr aufgeboten werden? Die UNO von 1945 hat sich sehr schnell in eine Völkergemeinschaft verwandelt, in der totalitäre und autoritäre Regime eine deutliche, ja mächtige Minderheit stellten. Wichtige Entscheidungen konnte ohnehin nur der fünfköpfige Sicherheitsrat treffen.

Man würde es sich jedoch zu leicht machen, verwiese man nur auf die Präsenz von Diktaturen in diesem Gremium. Frankreich und England steckten lange in blutigen Kolonialkriegen. Die USA als westliche Führungsmacht wiederum haben sich erst 1989 entschließen können, die UNO-Völkermordkonvention von 1948 zu ratifizieren. Überdies waren die Vereinigten Staaten oft genug dadurch blockiert, dass sie im Kampf gegen kommunistische Regime mit autoritären Staaten genozidalen Zuschnitts glaubten paktieren zu müssen.

Wo sich aber Realpolitik selbst in ethische Entscheidungszwänge brachte, siegte zumeist interessengeleiteter Pragmatismus. Erst die massenmediale Darstellung seiner bisweilen tödlichen Konsequenzen veränderten die innenpolitisch maßgebende Bewusstseinslage der westlichen Demokratien. Der Vietnamkrieg wurde auch im Fernsehen entschieden.

45 Jahre lang scheiterten die Vereinten Nationen daran, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes auch nur teilweise umzusetzen. Erst von 1993 an wurden für die Bestrafung der Verbrechen in Jugoslawien und - später - Ruanda spezielle Gerichtshöfe geschaffen. Es dauert sogar ein halbes Jahrhundert, bis im Juli 1998 ein permanenter Internationaler Strafgerichtshof der Vereinten Nationen gebilligt wurde. Der Sturz des Kommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion seit 1989 hat dabei beschleunigend gewirkt.

Immer noch steht es jedoch miserabel um die Verhütung von Völkermord. Der Genozid an den Tutsis im Frühjahr 1994 wurde von der ganzen Welt zugelassen - "eyes wide shut". Sechsmal bat der UN-Kommandeur in Ruanda - General Romeo Dallaire (Kanada) - darum, das Morden mit einer Truppe von 5000 Mann - 2700 hat er bereits vor Ort - verhindern zu dürfen. Jedesmal wurde er in New York abgewiesen.

Schätzungsweise 800 000 Menschen wurden zwischen dem 6. April und 5. Mai 1994 regelrecht abgeschlachtet. Kofi Annan - Dallaires Vorgesetzter in New York - bedauert das später zutiefst. Aber damals wurde im Sicherheitsrat bewusst der Euphemismus "civil war" verwendet, wahrscheinlich, weil man bei der Diagnose "genocide" gemäß der eigenen Normen hätte handeln müssen.

Ein halbes Jahrzehnt später, im Jahre 1999, gelang die Beendigung der Völkermorde im Kosovo - durch die NATO - und in Osttimor durch vorwiegend westliche Truppen. Dennoch wurden nach Auskunft Carla del Pontes, der Chefanklägerin am Haager Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY), bis zum Abzug Serbiens aus dem Kosovo über 11 000 Albaner ermordet. In Ost-Timor starben binnen weniger Tage mehr als über 1000 Menschen und 70 000 Häuser - zwei Drittel aller Behausungen - wurden verbrannt.

Überdies verdanken sich beide Interventionen keineswegs Mandaten der UNO, obwohl knapp 140 Mitglieder die Völkermordkonvention unterschrieben haben. Sie haben also anerkannt, "dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten" (Artikel 1 der Konvention).

V.

Buchstaben und Geist der bahnbrechenden Konventionen und Holocaustvermächtnisse von 1948 sind in Politik und Gesellschaft auch der demokratischen Staaten weitgehend unbekannt geblieben. Dass ihre Verbreitung eine kulturpolitische und pädagogische Aufgabe erster Ordnung darstellt, wird noch kaum erfasst. Eine neue Scheu vor dem Leben muss in den Mittelpunkt politischer Erziehung gerückt werden. Man möge einem sozialdemokratischen Agnostiker solche Redeweise nachsehen, aber der Kerngedanke der hebräischen Bibel, dass Leben und Gutes identisch sein sollen, ist für eine antigenozidale Weltzivilisation unentbehrlich: "Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute. / Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst" (Deuteronium/5. Mose 30: 15/19).

Es bedarf keiner religiös-mystischen Erfahrung, um zu erkennen, dass die Abkehr von dieser offenbarten Wahrheit großes Unheil über das 20. Jahrhundert gebracht hat. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln solcher Abkehr zu erforschen, sollte nicht der Theologie oder Sonntagspredigern allein überlassen werden. Ökonomen und Soziologen allerdings auch nicht. In dieser Frage gibt es kein Interpretationsmonopol; auch ich beanspruche keins. Fraglos aber ist angesichts der Menschheitsschuld des Holocaust die Notwendigkeit der Umkehr.

VI.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die UNO-Völkermordkonvention am 22. Februar 1955 ratifiziert. Aber auch sie ließ dann 44 Jahre verstreichen, bis sie zum ersten Mal an einer militärischen Völkermordunterbindung mitwirkte. Diese Abstinenz hatte verständliche historische Gründe. Doch am 24. März 1999 begründete Bundeskanzler Gerhard Schröder die deutsche Teilnahme am Nato-Vorgehen gegen das bereits mehrfach genozidal aktiv gewordene Serbien/Jugoslawien: "An unserer Entschlossenheit, das Morden im Kosovo zu beenden, besteht kein Zweifel." Der Deutsche Bundestag unterstützte mehrheitlich diese Haltung. Wir alle haben nicht nur um die ermordeten Albaner getrauert, sondern auch um die Menschen, die bei den 78-tägigen Nato-Luftangriffen ihr Leben verloren.

Eine Verhütung von Völkermord, die diesen Namen verdient, muss früher ansetzen als bei militärischen Sanktionen. Und dennoch gibt es bis heute nicht eine einzige internationale Frühwarnstation, die genozidale Alarmzeichen sammelt und öffentlich verbreitet.

Die meisten der seit 1944/45 gezählten 100 genozidalen Aktionen sind erst während oder nach ihrem Vollzug der Weltöffentlichkeit bekannt geworden. Menschenrechtsorganisationen haben versucht, diese Lücke zu füllen - mit bescheidenen Mitteln und fast immer ohne feste Basis für die oft lebensgefährliche Arbeit ihrer Aktivisten. Die Vielfalt und auch die Konkurrenz unter diesen noblen Bewegungen erschwert überdies die Identifizierung eines eindeutigen Ansprechpartners für die Bedrohten.

Internationale Organisationen und mächtige Staaten haben bis heute gezögert, "Völkermordfrühwarneinrichtungen" aufzubauen - vielleicht, weil sie durch deren Befunde nicht unter militärischen Handlungszwang gebracht werden wollen. Auch wenn wir uns einig sind, dass in Zukunft viel schneller gehandelt werden muss, wissen wir doch, dass permanente internationale Verbände nicht schon morgen bereit stehen würden.

Mit dem Aufbau eines Frühwarninstituts deshalb ebenfalls zu warten, erschiene jedoch widersinnig. Wenn ein solches Institut einen Völkermord voraussagt, den die Staatengemeinschaft dann geschehen lässt - und vielleicht auch lassen muss aufgrund besonderer politischer oder strategischer Zwänge oder militärischer Notlagen - könnte das ja niemals gegen die Frühwarnung als solche sprechen.

Eine allgemeine Erfahrung des Holocaust, nämlich die nationale und internationale Weigerung, die Wirklichkeit staatlichen Terrors überhaupt wahrzunehmen, ist längst in die Geschichtsliteratur eingegangen. The Terrible Secret hat der Historiker Walter Laqueur sein Buch über die frühzeitige Kenntnis des Westens vom wahren Ausmaß des Holocaust genannt. Was wäre wohl geschehen, wäre die Wahrheit von Auschwitz, Sobibor, Chelmno oder Treblinka nach 1942 kein "Geheimnis" geblieben?

Ein solches Institut sollte also gerade ohne Angst vor möglichen Interventionszwängen rückhaltlos aufklären dürfen und keinerlei Information zurückhalten müssen. Dafür muss es unabhängig sein. Gewiss würde schon die bloße Existenz einer solchen Einrichtung etwas bewirken. Wie mit einer Wetterkarte würde die Öffentlichkeit regelmäßig über drohende Gefahren informiert. Auch die Planer von Genoziden - und sie gibt es - könnten beobachten, dass man ihre Vorbereitungen erfasst.

Völkermorde können - anders als Massaker - nicht aus dem Stand begangen werden. Historisch, so Gunnar Heinsohn, geht etwa jede vierte autoritär-totalitäre Nation oder Bewegung mit Völkermordpotenzial auch zum wirklichen Töten über. Alle Nationen mit Genozidpotenzial wären deshalb auf Hinweise zu überprüfen, die für seine Realisierung sprechen.

Sechs solcher Anzeichen, die sich nur ungemein schwer verbergen lassen, haben - und zwar bereits jedes für sich - eine furchtbare Voraussagekraft bewiesen: (i) Die adressenmäßige Erfassung und die Kennzeichnung von Opfergruppen; (ii) eine Propaganda, in der die vorgesehenen Opfer als tödliche Gefahr für die Täter hingestellt werden; (iii) die Auswechslung von hohen Offizieren der Tätergruppe, die beim Töten nicht mitmachen wollen; (iv) das Auftauchen von Tarnbegriffen (Euphemismen) für geplante Tötungen wie etwa "ethnographische Sanierung" oder "Endlösung" (Hitlerdeutschland über Polen bzw. Juden); "ethnische Säuberung" (in Jugoslawien seit 1991) oder auch "Bürgerkrieg" (Hutus 1994 über den Tutsigenozid oder Serbien 1999 zu Kosovo-Albanern); (v) die Aufstellung und Ausbildung von speziellen Mordeinheiten (Tscheka, SS, Paramilitärs, etc) und (vi) das Auftauchen von Flüchtlingen ohne typische Fluchtanlässe wie Hungersnöte oder Naturkatastrophen.

In meiner Behörde wird seit 1998 darüber nachgedacht, wer mit einer Völkermordfrühwarnstation diesen besonderen Wachdienst für die Weltgemeinschaft übernehmen könnte. Uns schien, dass mit einer solchen Aufgabe die Opfer der Jahre 1933 bis 1945 ein lebendiges Vermächtnis über das Weltgewissen gewönnen. Trauer und Erinnerung würden ergänzt durch einen Beitrag zur Verhinderung neuer Völkermorde. Die Völkermordkonvention von 1948 könnte, nein, sie muss neues Gewicht gewinnen; denn ohne Frühwarnung wird es niemals eine effektive Verhütung geben.

Die Holocaust-Konferenz in Stockholm legt es nahe, die Einrichtung eines solchen Instituts auf internationaler Grundlage zu bedenken. Ein solches Genocide Watch-Institut darf keine Einrichtung eines einzelnen Staates sein. Seine Unabhängigkeit und Vertrauenswürdigkeit könnten durch Erträge aus einer Stiftung finanziert werden. Vielleicht ist es auch denkbar, dass eine internationale Instanz wie die OSZE sich an einem Genocide Watch-Institut beteiligt. Unter Umständen sollte es weltweit zwei oder drei solcher Frühwarneinrichtungen geben.

Im Holocaust wurde die Entmenschlichung von Politik zum terroristischen Ereignis. Ihre historische Reflexion kann nicht die Vergangenheit bewältigen; denn Vergangenheit bleibt vergangen. Das Vermächtnis des Genozids besetzt vielmehr unsere Gegenwart mit der zentralen Frage: Was ist die Würde des Menschen, wenn nicht diejenige seines Lebens? Wie ist es vor genozidalen Anschlägen der Zukunft zu schützen? Aus der Erinnerung des Holocaust müssen die richtigen Antworten für Politik und Gesellschaft in zukünftiger Geschichte erwachsen.