Der Bund (CH), 29.1.2000

Macht der Ajatollahs bröckelt ab

IRAN / Der Islamischen Republik stehen Schicksalswahlen bevor. Das Reformlager um Präsident Khatami will das Parlament erobern. Die Macht der Konservativen wankt.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Immer wieder ergreift Ali Khamenei, der höchste Führer der Islamischen Republik, dieser Tage das Wort, um die Iranerinnen und Iraner zur Ruhe zu mahnen. Doch die Wogen der Aufregung schlagen immer höher. Am 18. Februar werde, so betont der bärtige Ayatollah, dem Gesetz voll Geltung verschafft: Es werde eine faire und ordnungsgemässe Parlamentswahl stattfinden.

Hält Khamenei sein Versprechen, dürften die Reformer um Präsident Khatami haushoch gewinnen. Doch ein solches Wahlergebnis wäre kaum im Sinn des höchsten Geistlichen. Ajatollah Khamenei hat offen Partei ergriffen für die erzkonservativen Bewahrer, die sich mit aller Kraft an ihre abbröckelnde Macht klammern. Er wies einen Beschwerdebrief von drei Dutzend reformorientierten Kandidaten zurück. Sie hatten sich beim Obersten Islamischen Schiedsrichter beschwert über eine gegen sie gerichtete Kampagne der Konservativen - ohne Erfolg.

Zensur der Kandidatenlisten

Der Wächterrat, der über das Wahlprozedere bestimmt, hat über 350 Kandidaten zurückgewiesen, unter ihnen viele prominente Reformer. Die Begründung: Sie hätten ihr Engagement für Iran nicht ausreichend unter Beweis gestellt, oder sie seien mit verbotenen politischen Organisationen verbündet. Die Präsident Khatami nahestehende Presse kritisiert diesen - keineswegs unerwarteten - Eingriff in die Wahlprozedur offen als Ungesetzlichkeit und Verfassungsbruch. Der Ausschluss der Kandidaten schmerzt das Lager der Reformer. An engagierten Kräften fehlt es ihnen zwar nicht, wohl aber an politisch erfahrenen Führern. Es ist eine Verfolgungskampagne im Gang gegen prominente Denker, Politiker und Publizisten, die Iran ein menschlicheres, ein demokratischeres Gesicht geben wollen. Ihre Speerspitze, der frühere Innenminister und Vizepräsident Abdullah Nuri, sitzt wegen «Beleidigung des Islams» im Gefängnis. Dennoch halten es Beobachter für möglich, dass Präsident Khatamis Anhänger das Parlament, eine der wichtigsten Bastionen der Konservativen, erobern könnten. Denn ihre Gegner können sich offenbar keine allzu krassen Wahlmanipulationen mehr leisten. Immerhin hat der von den Konservativen beherrschte Wächterrat bisher 1500 Kandidaten mehr zugelassen als bei den letzten Parlamentswahlen und nur halb so viele wie damals disqualifiziert. Nun steht den abgewiesenen Kandidaten die Berufung offen. Die endgültige Liste wird der Wächterrat der Bevölkerung eine Woche vor den Wahlen präsentieren.

Strittiges Reformtempo

Trotz den schweren Rückschlägen, die Khatamis Lager erleiden musste, ist die Schlacht keineswegs verloren. Der Präsident hat seit der Amtsübernahme vor zweieinhalb Jahren in der iranischen Theokratie einen Umdenkungsprozess eingeleitet. Auch die Konservativen um Ajatollah Khamenei sind heute der Meinung, Iran könne auf ökonomische und politische Reformen nicht mehr verzichten. Umstritten ist nur, wie weit die Reformen gehen sollen. Gelingt es Präsident Khatami und seinen Anhängern, bei den Wahlen die Mehrheit der Parlamentssitze zu erobern, wird der Reformprozess wesentlich beschleunigt. Erhalten die Reformer hingegen eine Abfuhr, ist Iran um eine grosse Hoffnung ärmer.

Rafsanjani auf der Lauer

Ein wichtiger Faktor auf dem Weg in die Zukunft ist Ex-Präsident Ali Akbar Rafsanjani, der seit 1987 als Vorsitzender des mächtigen Schlichtungsrats der wohl einflussreichste Mann im Hintergrund ist. Der alte Politfuchs kandidiert für einen Parlamentssitz und lässt sich damit auf sein vielleicht grösstes Vabanquespiel ein. Verliert Rafsanjani die Wahl, erleidet sein Ansehen empfindlichen Schaden. Gewinnt er - was trotz der wachsenden Schar seiner Gegner - durchaus möglich ist, dann, so meinte ein Beobachter, «wird er das Parlament an sich reissen und auf niemanden hören ausser - im besten Fall - auf Khamenei». Rafsanjani hatte in den vergangenen Jahren seine Karten nie offen auf den Tisch gelegt. Er steht eng im Bund mit den Konservativen, pflegt gute Beziehungen zu Khamenei, dessen wichtigster Berater er ist, ist zugleich aber ängstlich bedacht, auch unter den Reformern einen Platz zu finden.