junge Welt, 29.1.2000

»Es geht um Öl«

Bringt die EU der Türkei die Menschenrechte? Und welche geostrategische Rolle spielt Ankara für die NATO? jW-Gespräch mit dem Türkei-Experten Rüdiger Lötzer

* Rüdiger Lötzer ist seit mehr als zehn Jahren Redakteur beim Kurdistan-Rundbrief (*). Die Zeitschrift erscheint 14tägig und berichtet über den kurdischen Konflikt in der Türkei *

F: Verbessert die Anerkennung der Türkei als EU- Beitrittskandidat die Menschenrechtssituation am Bosporus?

Ich fürchte nein. Es gibt zwar große Hoffnungen unter der türkischen und kurdischen Bevölkerung, daß der Reformdruck der EU die Demokratisierung der Türkei fördert, doch das eigentliche Interesse der EU an Ankara hat wenig mit Menschenrechten zu tun. Hier dominieren vielmehr geopolitische Interessen in der Region. Deshalb besteht die Gefahr, daß es nicht zu einer Demokratisierung, sondern zu einer weiteren Militarisierung des Landes kommen wird.

F: Aber gerade die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) setzt große Erwartungen in einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Warum?

Die kurdische Bewegung unter Führung der PKK befindet sich spätestens seit der Verschleppung Abdullah Öcalans in einer Defensivposition. Nun sucht sie nach äußeren Hilfen, um dennoch einen gewissen Reformdruck in der Türkei aufzubauen. Das ist nicht überraschend, zumal die PKK schon seit einigen Jahren eine politische Lösung innerhalb der Türkei anstrebt und damit die Forderung nach einem separaten Staat endgültig aufgegeben hat.

Warum die PKK aber so große Hoffnungen in einen möglichen EU-Beitritt setzt, kann ich nicht nachvollziehen. Als Öcalan in Italien war, hat die EU durch ihre Ignoranz gegenüber den Angeboten des Kurdenführers gezeigt, daß sie nicht ernsthaft bereit ist, eine demokratische Lösung des Konfliktes in Kurdistan zu unterstützen. Die EU fördert wohl eher Scheinlösungen für die Kurden. So ist es durchaus möglich, daß es künftig staatlich kontrollierte kurdischsprachige Fernsehsender und Zeitungen in der Türkei geben wird, während die staatliche Verfolgung der kurdischen Opposition mit unverminderter Härte weitergeht. Denn eine ernsthafte Demokratisierung der Türkei wird von den europäischen Großmächten offensichtlich nicht gewollt.

F: Die prokurdische Partei HADEP stellt in fast jeder größeren kurdischen Stadt der Türkei den Bürgermeister. Bietet die EU-Entscheidung nicht die Möglichkeit, die vom Krieg zerstörten und wirtschaftlich unterentwickelten kurdischen Kommunen mit Finanzhilfen aus dem Westen wieder aufzubauen?

Die Selbstverwaltungskompetenzen der Kommunen in den kurdischen Provinzen wurden seit den Wahlerfolgen der HADEP gezielt eingeschränkt. Die Kommunen müssen fast ihre gesamten Steuermittel an die Zentralregierung abführen und erhalten kaum etwas zurück. Jetzt werden sogar die kommunalen Verwaltungsbeamten aus Ankara eingesetzt und kontrolliert. Hier könnte ein wirklicher Druck von seiten der EU die Selbstverwaltungsrechte und damit auch die politischen Möglichkeiten der Kurden stärken. Doch wie weit wir von solch einem Druck auf die Türkei entfernt sind, zeigt die Tatsache, daß in der EU niemand mehr über die inhaftierten Parlamentsabgeordneten der verbotenen prokurdischen DEP wie Leyla Zana, Hatip Dicle und andere auch nur spricht, geschweige denn sie aus dem Gefängnis holt.

F: Hat die Türkei denn eine Chance, in die EU aufgenommen zu werden, wenn sie die geforderten Menschenrechtsstandards nicht erfüllt?

Würde die Türkei unter den aktuellen Gegebenheiten in die EU aufgenommen, dann wäre das in der Tat eine völlig neue Entwicklung. So mußte in Spanien erst das faschistische Franco-Regime abgelöst werden, bevor der EG-Beitritt erfolgen konnte. Das gleiche galt für die Obristendiktatur in Griechenland. Diese Beispiele fördern die Hoffnungen auf demokratische Veränderungen in der Türkei.

Ich will nicht ausschließen, daß das türkische Militär durch kosmetische Korrekturen in der Verfassung etwas in den Hintergrund rückt. Ich denke aber, es wird seine tatsächliche Machtposition innerhalb der türkischen Gesellschaft behalten. Möglich ist auch eine gewisse Demokratisierung im Westen der Türkei, von der die kurdischen Provinzen einfach ausgeschlossen bleiben. In denen könnte unter dem Notstandsrecht weiter mit staatsterroristischen Mitteln regiert werden. Das Baskenland und Nordirland sind Beispiele für solch eine Entwicklung mitten in Europa. Auch dort wurde mit Sondergesetzen eine brutale Repression aufrechterhalten, ohne daß dies in der EU zu Widersprüchen führte.

F: Doch die Aufnahme der Türkei in die Liste der Beitrittskandidaten ist in den EU-Ländern zweifellos umstritten. Warum erfolgte sie gerade jetzt?

Ausschlaggebend für die aktuelle EU-Entscheidung dürfte die Entwicklung im Kaukasus gewesen sein. Für politische und militärische Interventionen der NATO in dieser Region ist die Türkei der wichtigste Ausgangspunkt. Schaut man sich die Strategie des deutschen Imperialismus in diesem Jahrhundert an, dann erkennt man, daß die Türkei dabei schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Die deutsche Politik hat das Land beharrlich als eine wichtige Bastion für die Expansion in den Nahen Osten und in den von Rußland kontrollierten Raum angesehen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Dabei geht es um die Kontrolle der Rohstoffressourcen, aktuell vor allem um die Kontrolle der gigantischen Ölvorkommen am Kaspischen Meer. Es ist kein Zufall, daß im Zusammenhang mit der Türkei-Entscheidung des EU-Gipfels von großen Investitionen westlicher Konzerne in die geplante Ölpipeline aus dem Kaukasus zum türkischen Mittelmeer die Rede ist. Hier soll offenbar Öl in gewaltigem Ausmaß geräubert werden. Dafür muß der Westen seine Machtposition in dieser Region sichern und ausbauen.

F: Es gibt die Ansicht, daß die Türkei-Entscheidung des EU- Gipfels nicht im Interesse Europas, sondern im Interesse der USA gefällt worden ist. Welche Rolle haben die USA hier tatsächlich gespielt?

Ich halte nicht viel davon, die ohne Zweifel vorhandenen Widersprüche zwischen den USA und den EU-Mächten zum Grundsatzkonflikt aufzubauen. Deshalb halte ich auch die EU- Entscheidung zugunsten der Türkei nicht für ein Geschenk an die USA. Natürlich wird es zwischen europäischen und US- Konzernen Streit um die Profite aus den über die Türkei abgewickelten Ölgeschäften geben - genauso wie um die zukünftigen Rüstungsgeschäfte mit Ankara. Das ist normale Konkurrenz innerhalb des westlichen Bündnisses.

Aber in der Türkei-Frage wirkt zwischen Deutschland und den USA eine politische Konstellation, wie sie schon der frühere US-Präsident George Bush formuliert hatte, nämlich »partner in leadership«. Die Gespanne Fischer/Albright und Clinton/Schröder stehen für diese Allianz. Die USA kümmern sich um die globalen Anliegen der westlichen Mächte. Sie verfügen auch über die entsprechenden militärischen Mittel wie unter anderem Flottenverbände, Interkontinentalraketen und Satellitenaufklärung. Die europäische Politik aber wird von der europäischen Hegemonialmacht Deutschland bestimmt. Ich denke, die USA und Deutschland haben sich darauf verständigt, daß sie die NATO-Bastion Türkei gemeinsam festigen, um sich darüber den Zugriff auf den Kaukasus zu sichern.

F: Beinhaltet dieser Zugriff auf den Kaukasus via Türkei auch die militärische Option?

Das kann man mit Clausewitz beantworten: »Der Eroberer kommt am liebsten friedlich.« Aber die von der NATO diktierten Rüstungsprogramme der Türkei, an denen die deutsche Industrie nach Kräften beteiligt ist, dienen sicher auch der Kriegsvorbereitung. Die Planungen für den Zugriff auf die Rohstoffe des Kaukasus laufen schon. Diese beinhalten die Option einer militärischen Konfrontation. Gleichzeitig schüren die westlichen Industriemächte im Kaukasus und im Transkaukasus etliche Konflikte zwischen den Völkern, um schon jetzt Anlässe für militärische Varianten zu schaffen.

Hier sollte man sich an die Planungen des deutschen Generalstabs im Ersten Weltkrieg für dieses Gebiet erinnern, wie sie der kürzlich verstorbene Geschichtswissenschaftler Fritz Fischer in seinem berühmten Buch über den »Griff nach der Weltmacht« dokumentiert hat. Nach der Oktoberrevolution und dem Frieden von Brest-Litowsk machte man sich in Berlin Gedanken darüber, wie die deutsche Armee am besten in den Kaukasus einfallen könnte, um die dortigen Ölquellen zu sichern.

Das Szenario sollte wie folgt aussehen: Zunächst wollte man aserbaidshanische Truppen auf armenische hetzen, was zu Massakern zwischen beiden Völkern führen sollte. Danach sollten Georgier als angebliche Friedensmacht, als Vorposten der deutschen Armee in die Schlacht geschickt werden. Am Ende wären die Ölquellen dann in deutschen Besitz gebracht worden. Nur die endgültige Niederlage des Deutschen Kaiserreiches vereitelte diese Pläne.

Daran wird deutlich, daß die momentanen Versuche, Konflikte zwischen den Völkern des Kaukasus zu schüren, eine üble Tradition haben. Solche Strategien führen direkt in den Krieg. Über den Krieg im Kaukasus und am Kaspischen Meer wird von westlichen Strategieinstituten schon lange geredet. Der Überfall der NATO auf Jugoslawien war auch die Vorbereitung auf einen solchen Krieg im Kaukasus.

F: Die Türkei ist keine ruhige Basis für den Westen. Das Land steht vor gewaltigen sozialen Problemen und vor der ungelösten kurdischen Frage und damit vor neuen Revolten.

Die westlichen Industriestaaten brauchen nicht unbedingt stabile Partner für die Durchsetzung ihrer weltweiten Expansionsinteressen. Wichtig ist für sie, daß trotz sozialer Unruhen die Geschäfte laufen und die Profite schnell genug außer Landes geschafft werden können. Dafür müssen die Regimes vor Ort sorgen, notfalls auch mit staatlichem Terror. Staaten wie Südkorea, die Philippinen und Thailand sind ja auch keine Musterknaben in Sachen Demokratie. Trotzdem waren sie immer Ziel westlicher Konzerne und Investoren.

Eine Absicht hinter der EU-Entscheidung ist auf jeden Fall, das Investitionsklima für westliche Konzerne in der Türkei zu verbessern, um das Reservoir an Billiglohnarbeitern besser ausbeuten zu können. Durch den Beitritt der Türkei zur Zollunion und die jetzt erfolgte Aufnahme in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten sind die politischen Rahmenbedingungen für potentielle Investoren in dem Land sicherer geworden. Zumal, wenn als zollfreies Absatzgebiet für die billig produzierten Waren die ganze EU offensteht. Deshalb ist nicht auszuschließen, daß es im Westen des Landes sogar zu einem kleinen regionalen wirtschaftlichen Boom kommt. In den kurdischen Gebieten wird man davon vermutlich nichts spüren, befürchte ich. Und gute Geschäfte für westliche Konzerne und eine Demokratisierung der Türkei sind zwei ganz verschiedene Dinge.

F: US-Energiekonzerne zeigen aber Interesse an dem gigantischen Staudammprojekt GAP in den kurdischen Provinzen. Um das Projekt herum sollen Industrien angesiedelt werden.

Solche Entwicklungsvorstellungen werden im Zusammenhang mit Staudammprojekten immer wieder geäußert. Ich erinnere an das Staudammprojekt Cabora Bassa in Moçambique. Dort hatten die portugiesischen Kolonialherren und das Apartheidregime in Südafrika vor Jahrzehnten prophezeit, das Projekt würde einen riesigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen. Doch Moçambique ist eines der ärmsten Länder Afrikas geblieben. Solange solche Projekte nicht mit einer breit angelegten Landreform, einer systematischen Entwicklung der Landwirtschaft und anderen regionalen Förderprogrammen verknüpft sind, profitieren davon immer nur wenige Konzerne. Und bekanntlich hat es in der Türkei seit Jahrzehnten keine wirkliche Landreform gegeben.

F: Die Kontrolle über Öl und Wasser verschafft der Türkei eine Schlüsselposition. Wird die Türkei zur regionalen Führungsmacht?

Die Kontrolle über die Wasserquellen des Nahen Ostens ist sicher eine der geopolitischen Stärken der Türkei. Es gibt ja auch in der türkisch-israelischen Allianz schon Gespräche über zukünftige türkische Wasserlieferungen über eine Pipeline nach Israel. Aber allein das Faustpfand Wasser reicht nicht aus, um der Türkei den Aufstieg von einer zweitrangigen Macht innerhalb der NATO in die Riege der westlichen Führungsmächte zu ermöglichen.

Sicher entsteht momentan ein neuer Nährboden für alte türkische Träume von einem riesigen panturanistischen Reich (Theorie einer Allianz aller sogenannten Turkvölker und ihnen verbunden behaupteter Nationalitäten, die vom Südgürtel der früheren Sowjetunion bis zur Mongolei reicht - Anmerkung der Redaktion) unter der Herrschaft Ankaras. Doch das bleiben Träume. Das Verhältnis zwischen dem Westen und der Türkei wird auch künftig ein Verhältnis zwischen Herr und Diener sein.

Hinzu kommt: Es gibt zwar die Absicht der großen westlichen Industrienationen, die Landverbindung von der Türkei bis nach China unter ihre strategische Kontrolle zu bringen. Doch die herrschenden Kreise in Rußland werden dieses Vorhaben der NATO-Länder kaum hinnehmen. Das zeigt schon jetzt das gnadenlose Vorgehen Moskaus gegen die moslemischen Krieger in Dagestan und Tschetschenien. Beunruhigend daran ist, daß die Entwicklung in der Region auf eine direkte Konfrontation des Westens mit Rußland zusteuert. Die NATO betreibt ganz offen die Balkanisierung und Ausplünderung des alten russischen Einflußgebietes. Rußland verfügt über Nuklearwaffen. Wenn es der Westen mit seinen Provokationen zu weit treibt, dann wird die Geduld Moskaus irgendwann am Ende sein. Eine weitere Eskalation - auch auf konventionellem Gebiet - würde alle Bemühungen um Demokratisierung und soziale Reformen in der Region um Jahre zurückwerfen.

Das Gespräch führte Jörg Hilbert

(*) Der Kurdistan-Rundbrief erscheint seit 1988 alle 14 Tage. Probeexemplare oder Abos (ein Halbjahresabo kostet 45,50 DM, ermäßigt 33,80 DM) sind zu bekommen beim GNN-Verlag, Weydingerstr. 14-16, 10178 Berlin, Fax (030) 24 00 94 69.