taz, 28.1.2000

Die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck befürchtet:

Wer das Grundrecht auf Asyl in Deutschland jetzt abschaffen will, der setzt auch das internationale Flüchtlingsrecht auf Spiel

Recht statt Willkür

In der deutschen Presse wird immer wieder das Grundrecht auf Asyl in Frage gestellt: Dem Nachdenken des Innenministers Schily über "Asylwürdigkeit" von Flüchtlingen folgte nicht nur der Beifall aus dem rechten Lager; auch in der taz wird für ein "Recht auf Gnade" oder "gönnerhafte Gesten" an Stelle eines Rechts auf Asyl plädiert. Das Unbehagen am Grundrecht auf Asyl scheint im neuen Jahrtausend auch die Linke zu erreichen. Der Mythos vom Asylland Nummer eins, in das alle Verfolgten dieser Welt strömen, hält sich in der Bundesrepublik hartnäckig, obwohl Deutschland im europäischen Vergleich nur auf Platz sieben liegt. Eng verbunden damit ist der Mythos von der Besonderheit des deutschen Asylrechts, das allein einen subjektiven Anspruch garantiere.

Zwingt uns die europäische Vereinheitlichung zum Abschied vom Grundrecht auf Asyl?, fragen die Protagonisten der neuen Asyldebatte. Die Antwort ist schlicht: Nein! Und dafür gibt es zwei ebenso schlichte Gründe: Zum einen ist der subjektive Anspruch auf Schutz keine deutsche Besonderheit. Alle EU-Staaten orientieren den Flüchtlingsschutz an der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). In allen Staaten finden flüchtlingsrechtliche Bestimmungen Anwendung, die einem Flüchtling einen individuellen Anspruch geben, nicht in ein Land abgeschoben zu werden, in dem "sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde" (Artikel 33, 1 GFK). Die "neue" Asyldebatte hat bisher die Ausgestaltung des Flüchtlingsrechts in den übrigen europäischen Staaten schlicht ignoriert.

Auch die Anerkennungsverfahren sind kein deutscher Sonderweg. In den EU-Staaten wurde die GFK innerstaatlich so umgesetzt: Ob jemand als Flüchtling anerkannt wird, muss in einem mindestens zweistufigen Verfahren - bestehend aus einer Behördenprüfung sowie oftmals einer Klagemöglichkeit vor einer unabhängigen Gerichtsinstanz - überprüft werden. Damit kommen die EU-Staaten den einschlägigen Empfehlungen des UNO-Hochkommisariats für Flüchtlingsfragen nach.

Das zentrale Merkmal des Rechtsstaatsprinzips ist also in den Asylverfahren in Europa eingehalten: Gesetze binden die Entscheidungen staatlicher Stellen, und eine unabhängige Überprüfung ist garantiert - in Deutschland bedeutet dies den Zugang zum Verwaltungsgericht über die Rechtsweggarantie in Artikel 19,4 Grundgesetz. In allen EU-Staaten gilt also: Recht statt Willkür! Für Deutschland hat das Bundesverwaltungsgericht schon 1991 festgestellt, dass aus der GFK ein subjektiver, einklagbarer Anspruch auf Schutz erwächst. Wenn die beschriebenen Gefahren für Leben und Freiheit bestehen, gibt es also kein Ermessen und auch keinen Bedarf für Gnade: Eine Abschiebung oder Zurückweisung muss aus rechtlichen Gründen unterbleiben. Auch wenn dies in der Debatte oft übersehen wird: Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt ein Recht auf Asyl und auf Abschiebungsschutz. Es unterscheidet sich daher nicht wesentlich vom deutschen Asylgrundrecht. Auch ohne das Grundrecht auf Asyl besteht ein subjektiver Anspruch auf Schutzgewährung nach der GFK und die Notwendigkeit einer gerichtlichen Überprüfbarkeit der Entscheidung. Umgekehrt widerspricht das deutsche Grundrecht weder der GFK noch einer europäischen Vereinheitlichung, wie sie die EU in Tampere beschlossen hat.

Zum anderen steht auch der Begriff des "politisch Verfolgten" in Artikel 16 a Grundgesetz der europäischen Vereinheitlichung nicht entgegen. Das deutsche Asylrecht zeichnet sich derzeit durch einen eng gefassten Flüchtlingsbegriff aus. Erst kürzlich wurde in einer Anhörung im Menschenrechtsausschuss des Bundestages nochmals deutlich, dass sich in Deutschland durch eine sehr restriktive Rechtsprechung eine Anerkennungspraxis durchgesetzt hat, die gerade bei nicht staatlicher Verfolgung verfehlt ist und von der Praxis anderer europäischer Länder abweicht. An ihnen müsste sich Deutschland orientieren. Die verengte deutsche Rechtsprechung zur Genfer Flüchtlingskonvention - nicht die Verankerung des Grundrechts auf Asyl im Grundgesetz - blockiert also die Entfaltung des Potenzials der GFK in Deutschland. Die Ausweitung des materiellen Flüchtlingsschutzes, nicht das Einschränken des Asylgrundrechts ist also die Hausaufgabe, die der Bundesrepublik beim Gipfel in Tampere aufgegeben wurde.

Da sich das deutsche Flüchtlingsrecht trotz der verfassungsrechtlichen Verankerung des Asylgrundrechts nicht wesentlich von den flüchtlingsrechtlichen Bestimmungen in den EU-Nachbarstaaten unterscheidet, muss unsere Verfassung nicht geändert werden. Dies sollten auch die Protagonisten der neuen Asyldebatte zur Kenntnis nehmen.

Warum aber dann - sechs Jahre nach der Änderung des Grundgesetzes und wiederum "im Namen Europas" - die Forderung nach einer erneuten Verfassungsreform?

Wer das Grundrecht auf Asyl abschaffen möchte, der will nicht den Weg zur Europäischen Union ebnen - der Vorstoß greift weiter: Er zielt auf das bestehende internationale Flüchtlingsrecht insgesamt, das die Staatenpraxis in Westeuropa prägt. Recht soll durch staatliche Gnadenakte ersetzt werden. Ich behaupte, dass die Attacken auf das deutsche Asylgrundrecht nur dann Sinn machen, wenn nach einer Abschaffung von Artikel 16 a Grundgesetz auch die GFK unter Beschuss genommen werden soll.

Den Versuch eines Ausstiegs aus der GFK hat es auf europäischer Ebene bereits unter der Ratspräsidentschaft von Österreich gegeben. Ein entsprechendes "Strategiepapier" wurde jedoch abgeschmettert. Der Gipfel von Tampere hat die GFK nun als Grundlage für eine europäische Vereinheitlichung erneut eindrucksvoll bestätigt.

Ein Blick auf Artikel 44 der Genfer Flüchtlingskonvention verdeutlicht das "Dilemma" mit dem deutschen Asylgrundrecht. Wer aus der Genfer Flüchtlingskonvention aussteigen will, kann dies grundsätzlich ohne weiteres tun, sobald er an der Regierung ist. Das deutsche Asylgrundrecht ist tagespolitischen Erwägungen hingegen mit guten Gründen entzogen. Es waren die Erfahrungen mit Flucht und Verfolgung zur Zeit des Nazi-Regimes, die unsere Grundgesetzväter veranlassten, die Asylgewährung im Grundgesetz zu verankern und nicht dem tagespolitischen Handeln auch noch so wohlwollender Regierungen zu überlassen. Nur Zweidrittelmehrheiten könnten beschließen, sich der Verantwortung für den Asylrechtsschutz in Deutschland zu entledigen. Schon allein, um den Flüchtlingsschutz nicht allzu leicht macht- oder tagespolitischen Erwägungen anheim zu stellen, halte ich es deshalb für notwendig, am deutschen Asylgrundrecht festzuhalten.

Das von Bundesinnenminister Otto Schily letztlich anvisierte Ziel "Gnade statt Recht" kann niemals eine tragfähige europäische Perspektive für dieses Jahrtausend sein. Wer Asylentscheidungen wie Schily mehr an "moralischen Maßstäben" statt an "juristischen Klauseln" orientieren will (und dabei keinen Zweifel daran lässt, dass selbst politisch Verfolgte ihr Recht auf Schutz zukünftig nicht mehr einklagen dürfen), der verabschiedet sich von der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes und von der positiven Auffassung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes", die dem Amsterdamer Vertrag zu Grunde liegt.

Was ist das für eine Vorstellung von Gnade, die offenbar die Betroffenen erst einmal rechtlos stellt? Es geht in der "neuen" Debatte - anders als beim "Asylkompromiss" von 1993 - nicht mehr um die Bekämpfung eines mutmaßlichen "Asylmissbrauchs", sondern darum, dass politisch Verfolgten der Schutzanspruch beschnitten werden soll. Und weil dies so ist, ist die "müde Konstruktion" (Sybille Tönnies) des deutschen Asylgrundrechts so lange nicht verzichtbar, wie der Flüchtlingsschutz nicht Bestandteil einer verbindlichen Europäischen Grundrechtscharta ist. Eine Politik, die sich von Grundrechten behindert wähnt, hat die falschen Ziele. Wer etwas anderes behauptet, hat aus dem 20. Jahrhundert nichts gelernt.

Marieluise Beck