Tages-Anzeiger (CH), 26.1.2000

Ankaras Leichen im Keller

Die türkische Polizei hat mehr als 370 mutmassliche Anhänger der islamischen Terror-Organisation Hizbullah festgenommen.

Von Wolfgang Koydel, Istanbul

Die Fälle sind so grausig, dass sie direkt dem Drehbuch eines Horrorfilmes entsprungen zu sein scheinen. Seit einer Woche gräbt die türkische Polizei Leichen aus, und man findet sie in allen Teilen des Landes: in Istanbul und in Ankara, am Mittelmeer und in Zentralanatolien. Zweiunddreissig Opfer sind es bereits, und sie alle tragen die Zeichen schwerster Folterungen. Einige wurden lebendig begraben, andere auf eine so perverse Art gefesselt, dass sie sich selbst langsam und qualvoll erdrosselt haben.

Die bisher entdeckten 31 Männer und eine Frau sind nach Angaben der Behörden Opfer der türkischen Hizbullah. Diese Gruppe hat nichts mit der gleichnamigen libanesischen Organisation zu tun, strebt aber ebenfalls die Errichtung eines auf dem islamischen Scharia-Recht basierenden Gottesstaates an. Angeblich wird die türkische Hizbullah vom benachbarten Iran unterstützt, und da trifft es sich für Propagandazwecke ganz gut, dass die tödliche Fesselungsmethode eine alte Erfindung professioneller persischer Menschenquäler sein soll.

Waffe Ankaras gegen die PKK An merkwürdigen "Zufällen" besteht auch sonst kein Mangel. Jahrelang haben die Behörden keinen Finger gerührt, um gegen die islamistischen Gotteskrieger vorzugehen. Nun begannen sie ihren Feldzug gegen die proiranischen Regimegegner ausgerechnet an jenem Tag, an dem sich der iranische Aussenminister Kamal Kharazzi zu einem lange erwarteten Besuch in Ankara aufhielt. Seitdem wurden nicht nur die Leichen entdeckt, sondern auch - "Zufall" Nummer zwei - über 370 mutmassliche Hizbullahs verhaftet, die sich jahrelang dem Zugriff der Polizei entzogen hatten.

An derartige "Zufälle" mag noch nicht einmal die staatstreue Presse in Istanbul glauben. Immer mehr Kommentatoren erinnern daran, dass die Hizbullah seit Ende der 80er-Jahre von Ankara zumindest geduldet, wenn nicht sogar gefördert worden ist. Die Steinzeit-Muslime sollten Schützenhilfe im Krieg gegen die nominell marxistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) leisten - getreu einem seit alters bewährten türkischen Motto: "Einen räudigen Köter lässt man am besten von anderen Hunden zerfetzen."

In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre verschwanden Hunderte von Menschen im Südosten der Türkei. Es waren Journalisten, Politiker und Geschäftsleute, die meist der PKK nahe standen. Schätzungsweise 700 Menschen kamen damals unter mysteriösen Umständen ums Leben. Das prominenteste Opfer war der auch unter Türken sehr angesehene kurdische Intellektuelle Musa Anter. Die wenigsten Verschwundenen wurden bisher gefunden. Deshalb ist die Einschätzung des türkischen Regierungschefs Bülent Ecevit wohl richtig, der weitere grausige Entdeckungen vorhergesagt hat.

Schätzungsweise die Hälfte der damaligen Morde wurde der Hizbullah angelastet, die anderen Verbrechen in diesem schmutzigen Krieg sollen von schattenhaften staatlichen Organisationen begangen worden sein, deren Existenz von Ankara immer wieder bestritten wurde. Doch nun, da die PKK militärisch am Ende und ihr Vorsitzender im Gefängnis sitzt, versucht der Staat sich der lästigen Komplizen von einst zu entledigen.

Mit blutiger Vergangenheit brechen

Dies jedenfalls ist die Überzeugung von Mahir Kaynak, einem ehemaligen Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT. Laut seinen Worten soll versucht werden, alle Morde der Hizbullah in die Schuhe zu schieben. "Auf diese Weise soll die schmutzige Vergangenheit des Staates rein gewaschen werden", schrieb Kaynak dieser Tage in der prokurdischen Zeitung "Özgür Bakis". Zwei festgenommene Hizbullahi wurden in die südostanatolische Stadt Batman geflogen, wo sie der Polizei die Gräber weiterer Mordopfer zeigen sollen.

Auch andere politische Beobachter sind überzeugt davon, dass der türkische Staat mit einer blutigen und unsauberen Vergangenheit brechen will, die nicht zu dem neuen Status eines nach Europa strebenden EU-Kandidaten passt. Nebenbei bietet sich zudem die praktische Möglichkeit, vielleicht doch ein für allemal dem politischen Islam den Garaus zu machen. Denn immer häufiger ist neuerdings von Querverbindungen zwischen der Hizbullah und der islamistischen Fazilet-Partei die Rede.