Berner Zeitung, 25.1.2000

Grausame Hisbollah-Morde entsetzen die Türkei

Eine unglaubliche Mordserie der islamistischen Terrororganisation Hisbollah kommt in der Türkei zutage.

*Jan Keetman, Istanbul

Immer mehr Leichenfunde in Kellern und Gärten überall in der Türkei schockieren die Menschen. Gestern fand die Polizei im südtürkischen Adana das 32. und in Tarsus unter einem Baum die stark verweste Leiche des 33. Opfers der Terroristengruppe. Präsident Süleiman Demirel wies den Vorwurf zurück, die Islamisten seien von der Regierung unterstützt worden. Nachdem der Anführer der militanten Hisbollah (Partei Gottes), Hüseyin Velioglu, Anfang vergangener Woche bei einem mehrstündigen Feuergefecht mit der Polizei starb und in seinem Haus wichtige Unterlagen der Organisation gefunden wurden, reist die Serie der grausigen Entdeckungen nicht ab: In Istanbul, Ankara, Konya und Tarsus wurden die Leichen von mutmasslichen Terroropfern gefunden. An anderen Stellen wird noch gegraben. Über 270 Verdächtige wurden festgenommen, einige haben auf Gräber hingewiesen, in denen etwa 60 Leichen vermutet werden. Die gefesselten, meist nackten Leichen zeugen von der Grausamkeit der Entführer. Einige sind mit einem Seil so gefesselt, dass sie sich selbst strangulierten. Bisher konnten die meisten Leichen nicht identifiziert werden. Einige, bei denen die Identifizierung gelang, sind islamische Geschäftsleute kurdischer Abstammung, die in den letzten Monaten verschwanden, vermutlich wegen Differenzen innerhalb von Kreisen, die der Hisbollah nahe stehen.

Frauenrechtlerin ermordet

Besonderes Aufsehen erregte die Fund der bisher einzigen weiblichen Leiche, die als Konca Kuris identifiziert werden konnte. Die Mutter von vier Kindern beschäftigte sich im Selbststudium mit Theologie und setzte sich für die Rechte der Frauen im Islam ein. Kuris bestritt einige Überlieferungen ausserhalb des Koran. «Das kann mein Prophet nicht gesagt haben, und wenn er es gesagt hat, so kann er nicht mein Prophet sein», argumentierte sie. Obwohl sie ein Kopftuch trug, bestritt sie, dass der Koran fordere, dass Frauen ihren Kopf bedecken. Sie setzte sich dafür ein, dass Frauen in Moscheen nicht in einem Winkel beten müssen.

«Den gleichen Schmerz»

Besonders kämpfte sie für das Recht der Frauen, beim Totengebet zusammen mit den Männern am Sarg stehen zu dürfen. «Wir haben den gleichen Schmerz», sagte sie. Sie hielt sich nicht an religiöse Gebote, die sie nicht einsah und riskierte, aus der Moschee geprügelt zu werden. Nachdem die islamische Fe-ministin vor 18 Monaten von der Hisbollah entführt worden war, widerstand sie 35 Tage lang in der Gefangenschaft, dann lobte sie in einem Video die Hisbollah. Sie hatte keine andere Möglichkeit - und auch diese war keine: Man verstopfte ihr Nase und Mund, so dass sie erstickte.

Skandal noch am Grab

Die Beerdigung der energischen Kämpferin war fast wie ihr Leben. Als das Totengebet für Konca Kuris gesprochen werden sollte, verhinderte ihr Schwiegervater, dass sich einige Frauen, darunter ihre Tochter, neben den Sarg stellten; der Imam und die Polizei halfen ihm dabei. Nur eine Tante von Konca Kuris liess sich nicht abdrängen. Die Hisbollah wurde in den achtziger Jahren unter Kurden in der Türkei gegründet. Das Ziel soll die Gründung eines kurdischen Staats unter islamischem Vorzeichen gewesen sein. Die Inspiration zu dem Unternehmen kam von Khomeinys Islamischer Revolution in Iran. Eine gleichnamige Organisation existiert in Libanon und kämpft gegen Israel. zwei weitere Organisationen im Nordirak werden von Mitgliedern der Kurden-Familie Barzani geführt.

Innerkurdischer Konflikt

Anfang der 90er Jahre begann die Hisbollah einen Krieg mit der PKK, indem sie Sympathisanten sowie Politiker, Anwälte, Gewerkschafter und Geschäftsleute, die als kurdische Patrioten galten, liquidierte. Die PKK antwortete mit Bombenanschlägen auf Teehäuser, die sie für Anlaufstellen der Hisbollah hielt. In dieser Zeit wurde behauptet, diese werde von Sicherheitskräften ausgebildet und unterstützt. Die PKK - von jeher eher eine nationalistische als eine kommunistische Organisation - suchte rasch den Ausgleich mit den religiösen Gruppen. So verbot die PKK das Trinken und den Verkauf von Alkohol und übte Druck auf die Händler aus. Tatsächlich versöhnten sich Teile der Hisbollah mit der PKK.

Velioglus Abspaltung

Nicht so der so genannte Ilim-Flügel der Hisbollah, der von Hüseyin Velioglu, einem ehemaligen Studienkollegen Öcalans, geführt wurde. Vor zwei Jahren wurde offenbar, dass Velioglus Leute, nachdem sie den Einfluss der PKK zurückgedrängt hatten, selbst ins Visier der Sicherheitskräfte gerieten. Ihre Gruppen in den kurdischen Gebieten wurden allmählich ausgehoben. Darauf verlegte Velioglu seine Terrororganisation in Grossstädte im Westen, blieb aber vor allem unter Kurden aktiv. Was die Serie von Entführungen islamischer Geschäftsleute bezweckte, ist unklar. Die Opfer haben viel mehr gemein als nur reich zu sein. Daher ist anzunehmen, dass Geldbeschaffung nicht im Vordergrund stand. Möglicherweise vermutete man in den Betroffenen Abweichler. Trotzdem bediente man sich auch der finanziellen Möglichkeiten, die die Entführungen boten, indem man z. B. Kreditkarten der Opfer weiter benützte. Einkäufe mit diesen Kreditkarten führten auf auch Velioglus Spur.*

Berliner Zeitung, 25.1.

Streit um Irak-Politik vertieft Gräben im UN-Sicherheitsrat

Roland Heine

Erstmals seit Ende 1998 hält sich derzeit ein Team der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Irak auf. Die Inspektoren sollen 1,8 Tonnen schwach angereicherte Kernbrennstoffe im Atom-Zentrum Tuwaitha südlich der Hauptstadt Bagdad kontrollieren. Das in Fässern versiegelte Material ist der Einzige noch bekannte Kernbrennstoffvorrat in Irak. Der Verbleib solcher Stoffe wird im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages, dessen Mitglied Irak ist, bei allen Vertragsstaaten regelmäßig überprüft. 1998 hatte die IAEO erklärt, Irak könne keine Atomwaffen mehr bauen. Eine "absolute Sicherheit" gebe es aber nicht.

Die Geste Bagdads an die IAEO ändert jedoch nichts am Fortbestehen der Krise am Persischen Golf. Die zugelassenen Inspektionen sind keine Abrüstungskontrollen im Sinne der UN-Resolutionen, die im Gefolge des irakischen Überfalls 1990 auf Kuwait vom UN-Sicherheitsrat erlassen worden waren. Darin war die Zerstörung aller Massenvernichtungsmittel als Voraussetzung für die Aufhebung der bis heute geltenden Sanktionen gegen Irak beschlossen worden. Zur Überprüfung der Abrüstung wurde eine UN-Kommission (Unscom) eingesetzt, deren Tätigkeit jedoch immer wieder in Konfrontation mit den Behörden Iraks mündete. Bagdad beschuldigte die von den USA dominierte Unscom schließlich, mit bewusst negativ gehaltenen Berichten das Ende der Sanktionen immer wieder hinauszuschieben und Washington die Rechtfertigung für seine hohe Truppenpräsenz zu geben.

Ritter: USA suchten Kriegsanlass

Im Herbst 1998 wurden - später bestätigte - Berichte bekannt, wonach Unscom-Leute Informationen über Irak exklusiv an Geheimdienste der USA und Israels lieferten. Bagdad stoppte darauf die Zusammenarbeit, im Dezember begannen die USA und Großbritannien unter Umgehung des UN-Sicherheitsrates und gegen den Protest Russlands und Chinas ein viertägiges Bombardement Iraks, 1 600 Menschen starben. Wenig später erhob der frühere Unscom-Inspektor Ritter Vorwürfe gegen seinen Ex-Chef Butler. Dieser habe seinen letzten Bericht in Absprache mit Washington formuliert, um einen Anlass für den "Viertagekrieg" zu liefern.

Seit Abreise der Unscom Ende 1998 ruht die Abrüstungskontrolle. Amerikaner und Briten führen regelmäßig völkerrechtlich nicht sanktionierte Patrouillen-Flüge über dem Norden und Süden Iraks durch und feuern dabei, offiziell stets "in Selbstverteidigung", auf militärische wie zivile Objekte. Piloten waren bislang nicht unter den ansonsten zahlreichen Opfern dieser Zwischenfälle. Parallel zu diesem Kleinkrieg verschärfte sich die Versorgungslage der Bevölkerung weiter.

Vor diesem Hintergrund wuchsen 1999 auch im UN-Sicherheitsrat die Kontroversen um die Irak-Politik. Russland, China und zunehmend auch Frankreich verlangten die Aufhebung aller Sanktionen für den Zivilbereich. Ihr Standpunkt ist, dass Irak - so weit überhaupt kontrollierbar - alle Abrüstungsauflagen erfüllt hat. Kontrollmaßnahmen sollen demnach vom bisherigen System ständiger Vor-Ort-Inspektionen zur langfristigen Überwachung übergehen. Die USA und Großbritannien wandten sich vehement gegen beide Überlegungen.

Konflikt um Nachfolger für Butler

Erst am 17. Dezember 1999 verabschiedete der Sicherheitsrat eine neue Irak-Resolution. Sie hob die Obergrenze für Iraks Ölexporte zur Finanzierung von Gütern des täglichen Bedarfs auf. Die Einfuhr wichtiger Ersatzteile und Technologien wird nun durch eine feststehende Liste geregelt, was übergroße zeitliche Verzögerungen abschafft. Ähnliches gilt für andere zivile Importe. Zugleich wurde die Schaffung einer neuen Abrüstungskommission (Unmovic) beschlossen, mit der Bagdad erst vollständig kooperieren muss, bevor die Sanktionen ganz beendet werden. Details zur Unmovic sollten später vereinbart werden.

Diese Einigung, die Bagdad zunächst ganz zurückwies, weil man die völlige Aufhebung der Sanktionen durchsetzen will, war von vornherein brüchig: Russland, Frankreich und China stimmten der Resolution nicht zu, sondern enthielten sich der Stimme. Folgerichtig rissen die Gräben in der Vorwoche wieder auf, als es um die Nominierung des Unmovic-Chefs ging. Von ihm wird es unter anderem abhängen, in welches Fahrwasser die neue Kommission gerät. Nach langem Hin und Her schlug UN-Generalsekretär Annan den Schweden Rolf Ekeus vor. Doch der ist nicht nur der Favorit der USA für diesen Posten, er leitete auch vor Butler bereits die diskreditierte Unscom. Mit einer Entscheidung, die dann noch der Zustimmung Iraks bedarf, ist frühestens im Februar zu rechnen.