web.de, 23.1.2000

Ecevit: Extremisten könnten Ministerien infiltriert haben

Mutmaßliches Hisbollah-Mitglied im Büro des Regierungschefs festgenommen - Acht weitere Leichen gefunden

Ankara (AP)

Die islamische Extremistengruppe Hisbollah hat nach den Worten des türkischen Regierungschefs Bülent Ecevit möglicherweise Mitglieder in staatliche Institutionen eingeschleust. Ecevit reagierte damit am Samstag auf die Festnahme eines mutmaßlichen Hisbollah-Mitglieds in seinem Büro am Vortag. Unterdessen entdeckte die Polizei nach einem Bericht des Fernsehsenders NTV acht weitere Opfer der Extremistengruppe. Damit stieg die Zahl der bei einer Polizeiaktion gegen die Gruppe in der zurückliegenden Woche gefundenen Leichen auf 25.

Polizeichef Mehmet Aksu erklärte in der mittelanatolischen Stadt Konya, die Opfer seien im Keller eines Hauses entdeckt worden. In einem weiteren Haus in Konya sowie in Istanbul und Ankara waren zuvor bereits die sterblichen Überreste von 17 Personen gefunden worden, die von Mitgliedern der Hisbollah getötet worden sein sollen. Bei einer der entdeckten Leichen handelt es sich um die seit einem Jahr verschwundene Schriftstellerin Konca Kuris. Die islamische Frauenrechtlerin hatte nach Angaben ihres Bruders Freunde bei der Hisbollah, war aber selbst nicht Mitglied.

Ecevit sagte am Samstag vor Journalisten, es sei gut möglich, dass die Hisbollah auch andere staatliche Institutionen infiltriert habe. Der in seinem Büro festgenommene Computerspezialist hatte nach Informationen der Tageszeitung «Radikal» Zugang zur gesamten Reiseplanung des Ministerpräsidenten und anderer Regierungsmitglieder.

Im Zusammenhang mit der Hisbollah-Affäre geraten die türkischen Staatsorgane immer mehr in die Kritik der Presse. Es gibt Verdachtsmomente, wonach die Gruppe Ende der 80er Jahre unter Mithilfe des Staates gegründet wurde, um ein Gegengewicht gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu schaffen, die damals für einen kurdischen Staat in der Südosttürkei kämpfte. In der ersten Zeit ermordete die Gruppe auch in erster Linie PKK-Mitglieder. Die türkischen Behörden «scheinen ein Ungeheuer geschaffen zu haben, das gefährlicher ist als die PKK», schrieb der Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung «Turkish Daily News», Ilnur Cevik, am Freitag. Die türkische Hisbollah hat nichts mit der proiranischen Organisation gleichen Namens in Libanon zu tun.