Süddeutsche Zeitung, 21.1.2000

Meinungsseite

Aus Feinden werden Nachbarn

Europa, Öcalan und zwei Erdbeben haben Türken und Griechen einander näher gebracht

Von Wolfgang Koydl

Wer Fortschritte im Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei messen möchte, muss sich in Bescheidenheit üben. Im griechischen Außenministerium beispielsweise war kürzlich die Freude darüber schon sehr groß, dass sich die Kampfpiloten der beiden Länder wenigstens keine Scheingefechte mehr liefern und dass die Zahl der türkischen Luftraumverletzungen in der Ägäis von zeitweise mehr als 30 am Tag auf drei zurückgegangen ist. Dies ist eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass die Piloten einander vor kurzem noch am liebsten abgeschossen hätten.

Die neue Friedfertigkeit am Himmel passt zu der Atmosphäre der freundschaftlichen Kooperation, welche die Regierungen in Athen und Ankara derzeit auch auf Erden praktizieren. Ihr sichtbarster Ausdruck ist der gegenwärtige Besuch des griechischen Außenministers Georgios Papandreou in der Türkei. Es ist nicht falsch, diese Visite mit dem oft missbrauchten Begriff "historisch" zu belegen: Ganze 38 Jahre sind mittlerweile vergangen, seit zum letzten Mal ein Außenminister aus Athen Ankara besuchte. Damals herrschte in Griechenland noch ein König, in der Türkei hatte sich zum ersten Mal das Militär an die Macht geputscht, und in Deutschland war Helmut Kohl kein alter Sünder, sondern ein junger Wilder in der Partei des Patriarchen Konrad Adenauer.

Seitdem hatten sich Türken und Griechen meist nur am Rande internationaler Veranstaltungen getroffen, wenn sie sich nicht ganz aus dem Wege gingen oder gleich gefährlich mit dem Säbel rasselnd kriegerische Drohungen ausstießen. Freilich ist Papandreous Besuch mehr als bloße Symbolik. Er und sein türkischer Kollege Ismail Cem werden einige bilaterale Abkommen unterzeichnen, die mehr Substanz enthalten werden, als dies noch vor einem Jahr für möglich gehalten worden wäre.

Unter anderem verpflichten sich beide Länder zur Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Menschenschmuggel und gegen den Terrorismus. Letzteres ist umso beachtlicher, als Griechenland Anfang vergangenen Jahres dem von Ankara als Oberterroristen eingestuften kurdischen Parteiführer Abdullah Öcalan komplizenhaft bei der Flucht vor türkischen Behörden geholfen hatte. Der Skandal kostete den damaligen griechischen Außenminister Theodoros Pangalos das Amt und legte paradoxerweise die Grundlage für das neue, herzliche Verhältnis. Denn Pangalos' Nachfolger, der ruhige und ausgeglichene Papandreou, fand in Cem einen kongenialen Gesprächspartner.

Die beiden Minister begannen einen Dialog, der zunächst bewusst alle heiklen Punkte ausklammerte. Das gemeinsame Ziel klang bescheiden: Normale Beziehungen ohne Sticheleien, Feindseligkeiten oder Wutausbrüche. Einen entscheidenden Schub erhielt die zaghafte Annäherung im Spätsommer, als kurz hintereinander das Marmara-Gebiet und Athen von Erdbeben erschüttert wurden. Die Welle der Hilfsbereitschaft in beiden Ländern machte aus Gegnern Nachbarn. Die Türken lernten, dass die Welt nicht nur aus Feinden besteht; die Griechen, dass die vermeintlich barbarischen Türken ebenso verletzbare wie hilfsbereite Menschen waren.

Die erste Frucht der aus PKK-Terror und Bebenschrecken geborenen neuen Nähe konnte Ankara im vergangenen Dezember ernten, als die Europäische Union der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zusprach. Die Entscheidung wurde in Griechenland mit Jubel begrüßt, und seitdem kennt der Optimismus keine Grenzen. Tatsächlich hat die Türkei eine Reihe von bislang undenkbaren Zugeständnissen gemacht: So hat sie zum ersten Mal akzeptiert, dass bilaterale Streitfragen - wie von Athen gewünscht - vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag entschieden werden können, wenn es Türken und Griechen bis zum Jahr 2004 nicht gelingt, sich alleine zu einigen.

Allerdings ist es gerade die überschäumende Zuversicht, die zur Vorsicht mahnt. Denn Griechen wie Türken sind so emotional, dass schon eine Kleinigkeit genügt, um das Verhältnis erneut zu ruinieren.