WoZ (CH) 3/00, 20.1.2000

Die türkische Welt steht Kopf

Ömer Erzeren

Ein ganzes Land im Einheitstaumel. Der Regierungskompromiss im Falle Abdullah Öcalan zeigt, wie sehr sich das Land verändert hat. Noch vor wenigen Jahren schienen die türkische Gesellschaft und der türkische Staat vor einer Zerreissprobe zu stehen. 40 000 Menschen hatten ab 1984 in den kurdischen Regionen den Tod gefunden, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) führte Krieg gegen den türkischen Staat. Das Beziehungsgestrüpp zwischen organisierter Kriminalität und Spitzen der Politik war in aller Munde. Die Medien berichteten ausführlich über Kooperationsgeschäfte zwischen Drogenbossen und PolitikerInnen. Und es ist gerade mal drei Jahre her, dass der Islamist Necmettin Erbakan, der böse Bube und Führer der Wohlfahrtspartei, im Bunde mit der konservativen Politikerin Tansu Çiller - die Inkarnation von Korruption und Machtlüsternheit - zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Besorgt fragten westliche Kommentatoren, ob die Türkei nun auf dem Weg zu einem Gottesstaat nach iranischem Vorbild sei. Und auf dem Luxemburger Gipfel Ende 1997 hatte die Europäische Union der Türkei den Status eines ungebetenen Gastes zugewiesen. In den politischen Diskussionsrunden im türkischen Fernsehen schlugen sich die Teilnehmer die Köpfe ein. Radikale Veränderungen von unten: weitgehende politische Konzessionen an die KurdInnen, Islamisierung der Gesellschaft oder Erstarkung der Linken - alles schien möglich. Heute herrscht wieder Ruhe und Ordnung. Die aus den Wahlen 1999 hervorgegangene Regierung von Bülent Ecevit ist die stabilste Regierung, die die Türkei seit langer Zeit gesehen hat. Eine Koalitionsregierung, die drei so verschiedene Parteien vereint wie die rechtsextreme Nationalistische Aktionspartei (MHP), Ecevits nationalistisch-linkspopulistische Partei der demokratischen Linken und die konservative Mutterlandspartei von Mesut Yilmaz. Die Regierung agiert wie ein Technokratenkabinett nach einem Militärputsch. Effizient peitscht sie Gesetze durch, die im "nationalen Interesse" erforderlich sind. Über Jahre hinweg war Ecevit ein scharfer Gegner jeglicher Privatisierung und ein grosser Freund des kemalistischen Staatsinterventionismus. Ganz anders als Regierungschef: Da räumt er hemmungslos Verfas-sungsparagrafen beiseite, die Privatisierung und ausländische Investitionen erschweren. Frühere Regierungen wahrten - aus Rücksicht auf die Basis - Distanz zum Internationalen Währungsfonds (IWF), Ecevit hingegen unterzeichnete ein Stand-by-Abkommen. In den siebziger Jahren - da war er schon einmal Ministerpräsident - legte sich Ecevit mit den USA an, heute bewundert er Bill Clinton. Und ausgerechnet unter Ecevit, der 1974 den Einmarsch in Zypern befahl, haben sich die türkisch-griechischen Beziehungen entspannt.

Die Welt steht Kopf. Auch bei der rechtsextremen Koalitionspartei MHP. Deren AnhängerInnen würden am liebsten PKK-Führer Abdullah Öcalan lynchen und dazu ein Volksfest feiern. Öcalan ist zum Tode verurteilt, es fehlt nur noch die parlamentarische Bestätigung des Todesurteils. Doch letzte Woche entschloss sich auch der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli, erst einmal die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzuwarten. Und in der MHP-Fraktion sitzen faschistische Mörder, die heutzutage brav die Hand heben, wenn es darum geht, mehr Rechtsstaatlichkeit einzuführen. Obwohl die Koalitionsparteien Stück für Stück eine Politik umsetzen, die ihrer Klientel widerspricht, kommt es kaum zu Spannungen. Ein wichtiger Grund hierfür ist zweifellos die Haltung der Medien, die von zwei grossen Medienkonzernen kontrolliert werden und die Bejubelung der Regierungskoalition zur politischen Leitlinie erklärt haben. Parteifunktionäre, die aus dem Einheitskurs auszuscheren drohen, werden sofort zur Räson gebracht. Dies geht so weit, dass Kolumnisten den MHP-Vorsitzenden Bahceli auffordern, sich einzelne Extremisten vorzuknöpfen, damit sie nicht länger der Partei und dem nationalen Interesse schaden. Diejenigen, die einst bei Öcalan "Kopf ab" schrien, denunzieren heute Befürworter der Todesstrafe als "Verräter an der Nation". Die Opposition befindet sich im luftleeren Raum. Çiller zum Beispiel wird von Zeitungen und Fernsehsendern ignoriert. Nur wenn sie "Konstruktives", "Positives" von sich gibt, darf sie in die Öffentlichkeit. Und die Islamisten, die sich einst als Alternative zum politischen System priesen, wetteifern mit der Regierung, wer EU-freundlicher sei. Die Kritik der Islamisten beschränkt sich auf Marginalien: Universitäten sollen doch bitte Studentinnen mit Kopftuch zulassen. Und ein weiterer Oppositioneller, der keiner mehr ist, bietet der Regierung der nationalen Einheit seine Dienste an: Abdullah Öcalan rühmt den grossen Staat, und seine PKK bejubelte die vorläufige Aussetzung des Todesurteils als "Jahrhundertentscheidung". Es wird immer schwieriger, Erklärungen des Staatspräsidenten, der Regierung, der Islamisten und der PKK auseinander zu halten. Hinwendung nach Europa - vom Unternehmerverband TÜSIAD seit langem gefordert - heisst die Devise. Man kann den Beginn des atemberaubenden Wandels an einem Datum festmachen: Am 28. Februar 1997 fand eine historische Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates statt, in welchem die Militärs den Ton angeben. So könne es nicht weitergehen, befanden die Generäle an jenem Tag und diktierten die neuen Rahmenbedingungen. Danach ging alles in Windeseile: Der Sturz des islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan; das Verbot seiner islamistischen Wohlfahrtspartei (die Nachfolgepartei fügt sich bereitwillig dem neuen nationalen Konsens). Danach die Entscheidung, Abdullah Öcalan dingfest zu machen; der Druck auf Syrien, die Entführung aus Afrika (auch Öcalan fügt sich heute dem neuen nationalen Konsens). Die Wahlen im April brachten schliesslich die politische Zustimmung zum Umstrukturierungsprogramm der Generäle. Alle Parteien, die sich für Partikularinteressen stark gemacht hatten, verloren Stimmen: die Islamisten, die Sozialdemokraten, die sich weigerten in nationalen Koalitionen mitzuwirken, die verfeindeten konservativen Parteien. Nur die staatstreuen Parteien gewannen. Doch Staatstreue bedeutet heute (Strategen im Generalstab haben dazu kluge Papiere geschrieben) Restauration durch Reform auf dem Weg nach Europa.