Der Standard (A), 20.1.2000

Letzte Grenze des Kalten Kriegs

Türkei und Armenien wollen ihre Beziehungen verbessern

STANDARD-Korrespondent Jürgen Gottschlich

Erewan/Istanbul - Der Ort bietet ein Bild trostloser Verlassenheit. Eine schneeverwehte Straße, Stacheldrahtverhau und zwei Schlagbäume, die seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet wurden. Die Grenzstation zwischen Kars, der letzten Stadt im Nordosten der Türkei, und Erewan, der armenischen Hauptstadt, ist schon so lange geschlossen, dass sich in den Dörfern entlang des Todesstreifens niemand mehr daran erinnern kann, wie es war, als man die Grenze noch passieren konnte. Während im Norden mehrere Übergänge nach Georgien nach und nach geöffnet wurden, blieb zwischen der Türkei und Armenien alles beim Alten. Zwischen Kars und Erewan scheint der Kalte Krieg noch nicht beendet. Doch seit Wochen mehren sich die Indizien, dass bald auch der letzte Stacheldraht des vormaligen Eisernen Vorhangs zerschnitten wird.

OSZE vermittelt

Voraussetzung dafür ist eine Beendigung des Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien. Schon vor Auflösung der Sowjetunion Ende der 80er-Jahre begann der Konflikt um die armenische Enklave Berg-Karabach in Aserbaidschan. Der Konflikt eskalierte, nachdem beide Länder 1991 selbstständige Staaten wurden, und mündete 1994 nach einem militärischen Erfolg der Armenier in einen bis heute andauernden Waffenstillstand. Seitdem vermittelt eine Kontaktgruppe der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zwischen den beiden verfeindeten Staaten.

Die Türkei hat in dem Konflikt das ethnisch und religiös verwandte Aserbaidschan unterstützt und aus Solidarität mit Baku die Blockade Armeniens mitgetragen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund für die geschlossenen Tore. Während des Ersten Weltkriegs, als von Istanbul aus noch das bereits seinem Ende entgegentaumelnde Osmanische Reich regiert wurde, ließ die nationalistische jungtürkische Regierung 1,5 Millionen Armenier als angebliche Kollaborateure mit dem russischen Feind in die syrische Wüste deportieren. Über eine Million Armenier starben. Dieser Völkermord, den alle türkischen Regierungen bis heute bestreiten, belastet die türkisch-armenischen Beziehungen zusätzlich.

Trotzdem haben sich die Regierungen in Erewan und Ankara jetzt darauf verständigt, ihre Beziehungen zu normalisieren. Der wichtigste Grund dafür ist die Lage im gesamten Südkaukasus. Seit Russland den zweiten Krieg im Nordkaukasus führt, fürchten Georgien und Aserbaidschan, mit hineingezogen zu werden und schlimmstenfalls ihre Unabhängigkeit wieder zu verlieren. Beide suchen deshalb Unterstützung im Westen - dessen erster Vorposten ist die Türkei.

Der Türkei kann das nur recht sein. Der Transkaukasus ist für Ankara einerseits die Brücke zu Zentralasien, zum anderen sollen zukünftig die großen Öl- und Gaspipelines aus dem Kaspischen Meer von Aserbaidschan über Georgien in die Türkei führen. An diesem von Baku nach Ceyhan führenden Jahrhundertprojekt hat nicht nur die Türkei, sondern auch die USA ein immenses strategisches Interesse.

Vorige Woche besuchte der türkische Staatspräsident Demirel Georgien und schlug dort einen Kaukasus-Stabilitätspakt vor, der das Ziel haben soll, den Südkaukasus gegen russischen Druck zu stabilisieren. Voraussetzung dafür aber ist, die Konflikte zwischen den Staaten im Südkaukasus, die der russischen Außenpolitik in der Vergangenheit immer wieder Gelegenheit boten, sich einzumischen und die Auseinandersetzungen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren, schnellstens zu beenden. An erster Stelle steht dabei der Krieg um Berg-Karabach.

Insider berichten, dass ein Friedensvertrag praktisch unterschriftsreif ist. Gajdar Alijew, Aserbaidschans starker Mann, ist 75 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen. Angesichts der Drohungen aus Russland, die Aserbaidschan vorwerfen, Nachschub für die tschetschenischen Kämpfer zu organisieren, ist er bereit, Armenien entgegenzukommen.

Warten auf Davos

Berg-Karabach soll zwar nominell aserisches Territorium bleiben, de facto wird das Land aber autonom regiert und bekommt über einen Korridor eine feste Anbindung an Armenien. Man rechnet damit, dass Alijew während eines Treffens mit dem armenischen Präsidenten Robert Koscharejan im Februar in Davos alles klarmacht. In diesem Fall wird die Drahtschere, die zuerst der ungarische Außenminister 1989 in die Hand nahm, auch hier, am südlichsten Ende des Eisernen Vorhangs, in Aktion treten - zum Missvergnügen Russlands, das die "türkische Einmischung" in seinem Vorhof ablehnt.