Frankfurter Rundschau, 18.1.2000

Der Präsident will kein Tierblut mehr sehen

In der Türkei ist die anfängliche EU-Euphorie der Frage gewichen, welche Traditionen geopfert werden müssen

Von Gerd Höhler (Athen)

Mehr Demokratie und Bürgerrechte, Wohlstand und neue Freiheiten versprechen sich viele Türken von der EU-Kandidatur ihres Landes. Aber zum Nulltarif wird es den Beitritt nicht geben. "Jetzt sind wir Europäer", jubelte das Istanbuler Massenblatt Sabah, nachdem die EU-Regierungschefs vergangenen Monat in Helsinki die Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen hatten. Doch die anfängliche Europa-Euphorie ist inzwischen einer gewissen Ernüchterung gewichen. Nicht wenige Türken fragen sich nun, ob sie mit der EU-Kandidatur womöglich in Zukunft auf liebgewonnene Gewohnheiten und tief verwurzelte Traditionen verzichten müssen.

Kein Geringerer als Staatspräsident Süleyman Demirel gab jetzt Anlass zu solchen Befürchtungen. Bisher ist es vor allem auf dem Land üblich, dass prominenten Politikern mit der öffentlichen Schlachtung von Opfertieren Reverenz erwiesen wird. Genüsslich schlitzen die Fans zu Ehren der vorbeimarschierenden Politiker am Rinnstein Schafen und Hammeln die Kehlen auf. Nicht selten müssen sogar Bullen und Kamele dran glauben. Vor allem während der Wahlkämpfe fließt das Blut in Strömen.

Für kaum einen türkischen Honoratioren dürften so viele Schafe, Ziegen oder Widder ihr Leben gelassen haben wie für "Baba" Demirel, eine nationale Vaterfigur. Doch ausgerechnet er will nun mit dieser Tradition brechen. Als Demirel Ende Dezember in die Südosttürkei reiste, um dort zwei Staudämme einzuweihen, gab er Order, die geplante Opferung von zwei Schafböcken aus dem Programm zu streichen. Die öffentlichen Schlachtungen, so hieß es zur Begründung in der Umgebung des Präsidenten, entsprächen nicht den EU-Hygienebestimmungen. "Erste Einweihung ohne Opfer" meldete überrascht und irritiert die Zeitung Sabah in der Titelschlagzeile.

Der Vorgang löste eine heftige Debatte aus. Galt es bisher als ausgemacht, dass die EU-Kandidatur der Türkei nur Gutes bescheren werde, nämlich wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und Menschenrechte, so geht nun vielen auf, dass sie womöglich auch Zugeständnisse machen müssen. Was, zum Beispiel, so fragen türkische Zeitungen besorgt, soll aus dem Kokorec werden, jener aus allerlei Innereien zubereiteten Delikatesse, die an den anatolischen Imbiss-Buden feilgeboten wird? Gerüchte wollen wissen, dem populären Snack drohe wegen der EU-Lebensmittelbestimmungen das Verbot.

Oder die gebackenen Schafsköpfe, deren weit aufgerissene, tote Augen schon manche Türkei-Touristen erschreckten, wenn ihnen das Gericht aufgetischt wurde: Wird nun womöglich auch diese Köstlichkeit von den Speisezetteln gestrichen, wenn die europäischen Kontrolleure die türkischen Küchen inspizieren?

Schon ist die Rede von der "Kokorec-Opposition", jener wachsenden Zahl von traditionalistischen Türken, die sich gegen die EU-Regularien sträuben wollen. Wenn sich bewahrheitet, was Istanbuler Boulevardblätter nun kolportieren, steht dem Land tatsächlich ein Kulturschock bevor. Hiobsbotschaften verbreitete der populäre Fernsehsender Show TV: Opfertiere auf dem Balkon zu mästen oder im Hinterhof zu halten, was bisher üblich ist, werde demnächst verboten. Der von jedem gestandenen Türken beherrschte Messerschnitt durch die Halsschlagader, der das Tier verbluten lässt, werde von Brüssel als Quälerei beanstandet.

Auch eine andere Leidenschaft, das Spucken, müssten die Türken in Zukunft aufgeben, heißt es. Die in vielen öffentlichen Verkehrsmitteln noch anzutreffenden Spucknäpfe entsprechen angeblich nicht den EU-Hygienebestimmungen. Müssen die Türken künftig, wie alle anderen Europäer, ihren Speichel diskret runterschlucken?

Das ist nur eine von vielen offenen Fragen. Informierte türkische Auslandskorrespondenten berichten aus Europa ihren Lesern sogar von Nichtraucherzonen in Restaurants und Rauchverboten in öffentlichen Gebäuden - eine völlig abwegige Vorstellung für die ständig vom blauen Dunst orientalischer Tabake umwaberte Nation. Sogar der Bauchtanz, fantasierten jetzt einige Istanbuler Gazetten, könnte sich möglicherweise als nicht EU-konform herausstellen. Und die Turkish Daily News warnte ihre Leser, dass man in einer "europäischen" Türkei wohl die bisher weithin übliche Missachtung eines Rotlichts an der Ampel nicht mehr durchgehen lassen könne. Für die meisten türkischen Automobilisten wäre das in der Tat eine unerträgliche Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit.

Oder kommt es gar nicht so weit? Bleibt der EU-Beitritt nur eine Fata Morgana? "Kandidat ja, Mitglied niemals", prophezeite bereits die rechtsradikale Zeitung Ortadogu. Auch viele Europäer trösten sich insgeheim mit der Einschätzung, die der Türkei zugestandene Kandidatur sei ohne praktische Bedeutung, eine Aufnahme komme, wenn überhaupt, erst nach Ablauf mehrerer Jahrzehnte in Frage.

Ministerpräsident Bülent Ecevit dagegen glaubt den Beitritt schon zum Greifen nahe. "In zwei bis drei Jahren", so der Premier, werde die Türkei wirtschaftlich fit sein für die Aufnahme - eine gewagte Prognose angesichts einer Inflationsrate von über 60 Prozent und zweistelliger Haushaltsfdefizite. Noch schneller, so Ecevit, werde man die Menschenrechtsdefizite aufarbeiten. Schon "in wenigen Monaten", erklärte der Premier kürzlich in einer Fernsehdiskussion, "können wir unsere Ziele hinsichtlich der Demokratisierung und der Menschenrechte erreichen".

Damit allerdings setzte sich Ecevit dem Verdacht aus, ein politischer Fantast zu sein. Wie weit die Türkei noch von Europa entfernt ist, demonstrierte kürzlich wieder einmal die Justiz. Fünf Tage nach dem EU-Gipfel in Helsinki begann in Istanbul der Strafprozess gegen sechs Kinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Den fünf Mädchen und einem Jungen drohen Haftstrafen von bis zu drei Jahren, weil sie eine nicht genehmigte Demonstration veranstaltet haben sollen. Die Schulkinder hatten mit Spruchbändern vor ihrem Schulhaus in einem Armenviertel Istanbuls dagegen protestiert, dass es zum Beginn des Schuljahres keine Lehrer gab. Dafür sollen sie nun ins Gefängnis. Am gleichen Tag, dem 16. Dezember, verurteilte ein Gericht in Izmir vier Jungen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren zu insgesamt 78 Jahren Haft, weil sie zwei T-Shirts gestohlen haben sollen.