junge Welt, 17.1.2000

Behördenleiter angezeigt

Chef des Ausländeramtes in Verden soll sich wegen »Kindesentziehung« verantworten

Das Ausländeramt des Landkreises Verden hat sich nach Auffassung von Flüchtlingsinitiativen der Kindesentziehung von Amts wegen schuldig gemacht. Ohne Absprache mit dem Vormund und dem Rechtsbeistand habe der Leiter der Behörde, Gerd Depke, ein 15jähriges kurdisches Mädchen alleine in die Türkei geschickt, erklärten jetzt der Niedersächsische Flüchtlingsrat und Pro Asyl. Die Organisationen unterstützen deshalb eine Strafanzeige des Bruders der Jugendlichen gegen den Behördenchef.

Depke hatte nach eigenen Angaben noch »keine Kenntnis« von der Anzeige. Seine Behörde werde auch »keine weitere Stellungnahme« zu den Vorgängen abgeben, sagte der Amtsleiter auf Anfrage von junge Welt.

Nach Angaben der beiden Flüchtlingsinitiativen hatte sich Sevim Demir Mitte 1998 bei den Landkreisbehörden beklagt, sie werde von ihrem Bruder »schlecht behandelt« und wolle deshalb zu ihren Eltern in die Türkei zurückkehren. Anstatt das Jugendamt zu verständigen, habe Depke das Mädchen eine rechtsungültige Verzichtserklärung für ihr weiteres Asylverfahren unterschreiben lassen und »hinter dem Rücken« des sorgeberechtigten Bruders und des Rechtsanwaltes die »freiwillige Ausreise« von Sevim organisiert.

In Begleitung von zwei Beamten sei die Jugendliche dann im Januar vergangenen Jahres nach Ankara geflogen worden. Von dort habe sie sich »über Hunderte von Kilometern« alleine mit dem Bus in ihre kurdische Heimatgemeinde Nusaybin durchschlagen müssen. Ihre Eltern habe Sevim aber nicht angetroffen, weil sie in der Zwischenzeit von der Polizei festgenommen worden seien. Der Vater sei wegen »Separatismus« zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.

In einem im November in Deutschland eingegangenen Brief beklagt sich das Mädchen über ihre Situation und entschuldigt sich bei ihrem Bruder für »falsche Vorwürfe«. »Ich bin zur Türkei gekommen, aber ich wußte nicht, daß es hier nicht schön ist«, heißt es in dem junge Welt vorliegenden Brief. »Ich habe keine Verwandten, aber ich habe nur eine alte Oma, die ist sehr krank und ich arbeite alleine hier. Wir haben kein Haus, kein Essen, keine Sachen und wir sind sehr unglücklich«.

Auch für den Bremer Rechtsanwalt, der die 15jährige vertritt, erfüllt das Handeln Depkes »objektiv den Tatbestand des Entzugs der elterlichen Sorge«, die das Amtsgericht Verden auf Sevims Bruder übertragen habe. Pro-Asyl- Sprecher Heiko Kauffmann bezeichnete es als »dreist, daß im Fall von Sevim Demir Einzelvormund und vermutlich das Jugendamt zugleich hintergangen wurden«.

Norbert Grehl-Schmitt vom Vorstand des Niedersächsischen Flüchtlingsrates wies darauf hin, daß die Ausländerbehörde auch dann rechtswidrig gehandelt hätte, wenn der Bruder nicht Vormund gewesen wäre. Depke wäre »verpflichtet gewesen, vor der Organisation einer Ausreise das Jugendamt zu verständigen und entsprechend den Vorgaben aus dem niedersächsischen Innenministerium eine Auffangstruktur für Sevim Demir in der Türkei nachzuweisen«. Grehl-Schmitt forderte den Landkreis Verden auf, Sevim Demir umgehend nach Niedersachsen zurückzuholen.

Reimar Paul