Hamburger Abendblatt, 15.1.2000

Wann kommen die Türken zur EU?

Günter Verheugen über die Bedingungen eines Beitritts

Irsee - Die Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten bedeutet für die Türkei nach den Worten des deutschen EU-Kommissars Günter Verheugen (SPD) nicht, dass eine Vollmitgliedschaft zwingend am Ende der Entwicklung stehen wird. Ansicht der EU sei es, in der Türkei einen tief greifenden Wandel in Gang zu setzen, so dass dort derselbe Standard an Demokratie, Rechtstaatlichkeit sowie Achtung der Menschenrechte und von Minderheiten wie in der EU herrscht, sagte Verheugen in einem Abendblatt-Interview.

ABENDBLATT: Herr Verheugen, viele Deutsche sehen der EU-Erweiterung mit gemischten Gefühlen entgegen, weil sie Arbeitsplatzverluste und neue finanzielle Belastungen befürchten.

VERHEUGEN: Bisher waren alle Erweiterungsrunden wirtschaftlich ein Vorteil, und zwar sowohl für die bisherigen als auch für die neuen Mitglieder. Alles, was wir heute wissen, bestätigt uns in der Annahme, dass auch von der neuen Erweiterungsrunde beide Seiten profitieren werden. In einigen Bereichen wird es Übergangsprobleme geben, die auch in Deutschland in grenznahen Gebieten auftreten können. Deshalb wird es Übergangsfristen geben, die als sehr differenziertes Instrument ausgeformt werden müssen. Ich garantiere, dass Beitritte erst dann vollzogen werden, wenn wir die ökonomischen und sozialen Folgen auf beiden Seiten wirklich beherrschen.

ABENDBLATT: Können Sie das denn wirklich garantieren, wo doch aus außenpolitischen Gründen gelegentlich Zusagen gemacht werden, die ökonomisch nicht vertretbar sind?

VERHEUGEN: Was EU-Erweiterungen angeht, wäre es das erste Mal. Denn alle bisherigen Erweiterungsrunden sind ökonomisch erfolgreich gewesen. Und in allen Fällen sind die Befürchtungen nicht eingetreten. Wir hatten in Deutschland damals eine Diskussion über mögliche Masseneinwanderung aus Spanien, Portugal und Griechenland. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall. Man kann es auch deshalb garantieren, weil allein schon Deutschland und Österreich den Verträgen nicht zustimmen werden, wenn darin nicht Regelungen gegen möglicherweise negative Folgen für grenznahe Gebiete enthalten sind.

ABENDBLATT: In besonderem Maße bewegt ein möglicher Beitritt der Türkei die Gemüter. Kann denn ein Land, das sich zu 97 Prozent auf asiatischem Boden befindet, Mitglied der EU sein?

VERHEUGEN: Diese Frage hätte man vor 36 Jahren stellen müssen, als der Türkei im Assoziierungsvertrag die Perspektive der vollen EU-Mitgliedschaft zugesichert worden ist. Alles, was wir der Türkei unterhalb der Perspektive der Vollmitgliedschaft anbieten würden, würde zu einer Abwendung der Türkei von Europa führen. Ich schlage eine Strategie mit dem Ziel vor, in der Türkei einen tief greifenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel in Gang zu setzen. Dort soll derselbe Standard an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und an Achtung der Menschenrechte und der Minderheiten erreicht werden, wie er in der EU besteht. Erst dann kann über die Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gesprochen werden. Wir befinden uns nicht in Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die EU führt keine Beitrittsverhandlungen mit Ländern, in denen die Menschenrechte nicht vollständig beachtet werden. Heute ist es viel zu früh, ein Urteil abzugeben, ob die Türkei Mitglied der EU werden wird.

ABENDBLATT: Wird die befürchtete Abwendung der Türkei nicht umso nachhaltiger eintreten, wenn es beim Reformprozess nicht schnell genug vorangeht?

VERHEUGEN: Diese Gefahr besteht natürlich, aber es liegt nicht in unserer Hand, das zu ändern. Wenn sich die Türkei sehr schnell in Richtung Beitrittsbedingungen fortentwickelt, wird diese Enttäuschung nicht eintreten. Ansonsten werden wir in ein paar Jahren eine andere Situation haben. Dann wird bei uns wie in der Türkei darüber zu reden sein, wie man auf diese Situation reagiert.

ABENDBLATT: Kann es also sein, dass die Türkei auch den Status Beitrittskandidat verlieren kann?

VERHEUGEN: Ich will darüber nicht gerne spekulieren. Ich kann nur sagen: Es gibt keine Garantie, dass die Ebene von Beitrittsverhandlungen erreicht wird. Wir haben den festen Willen, eine Politik zu betreiben, die es der Türkei möglich macht, aber ob dies erreicht wird, hängt vom Veränderungswillen in der Türkei ab. (rm)