Hamburger Abendblatt, 14.1.2000

"Ein toter Öcalan wäre zu gefährlich"

Signal an die EU: Türkei lässt den PKK-Chef leben

Von E. ANTONAROS

Athen - Ankaras Ministerpräsident Bülent Ecevit sah aus, als ob ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen wäre, als er nach siebenstündigen zähen Verhandlungen das Ergebnis der Beratungen mit seinen beiden Koalitionspartnern bekannt gab: Kurdenführer Abdullah Öcalan, seit November rechtskräftig zum Tode verurteilt, wird vorerst nicht hingerichtet. Die Türkei will zunächst die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten. Damit hat der seit Monaten auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft sitzende und um sein Leben bittende "Staatsfeind Nummer eins" eine Schonfrist von knapp zwei Jahren erhalten. Als entschiedener Gegner der Todesstrafe hat der Sozialdemokrat Ecevit mit voller Rückendeckung von Koalitionspartner und Ex-Premier Mesut Yilmaz gleich drei Ziele erreicht. Erstens: Es bleibt dabei, dass - wie seit der letzten Hinrichtung 1984 - in der Türkei kein Todesurteil vollstreckt wird. Zweitens hat Ecevit seine Koalition gerettet, deren Zusammenbruch den Erfolg der zügig vorangetriebenen Reformen akut gefährdet hätte. Drittens: Gegenüber der EU, deren Beitrittskandidat sie seit Anfang Dezember ist, beweist die Türkei, dass sie reformfähig ist. Bis zuletzt ist es alles andere als sicher gewesen, dass Ecevit mit seinem Kurs Erfolg hat. Und zwar nicht nur, weil sein mächtigster Partner, die rechts-nationalistische MHP-Partei unter Vizepremier Devlet Bahceli, seit Monaten massiv dafür eintritt, dass Öcalans Todesurteil wie von der Verfassung vorgesehen dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt wird. Auch breite Teile der türkischen Öffentlichkeit sprechen sich ununterbrochen für die Hinrichtung des "Babykillers" aus: "Schande, Schande. Ihr habt uns verraten", riefen Hinterbliebene von Armeeangehörigen, die im Kampf gegen die PKK-Kurden gefallen sind, Staatspräsident Süleyman Demirel ins Gesicht. Auch er hatte sich für eine Verschiebung der Hinrichtung ausgesprochen. Und sogar das mächtige Militär, das sich neuerdings auffällig still verhält, scheint durch sein Schweigen den Kurs der Regierung zu unterstützen. Der Eindruck trügt nicht: Das türkische Polit-, Militär- und Business-Establishment hat auf Europa-Kurs eingeschwenkt und daher auch eingesehen, dass es bei einer Hinrichtung mit dem Traum von einer Eingliederung in die EU sofort vorbei wäre. "Die Regierung hat eine weise Entscheidung getroffen", kommentierte das Massenblatt "Sabah". Hinzu kommt Ecevits strategisches Hauptargument gegenüber Bahceli, wonach ein lebender Öcalan eine politische Trumpfkarte in den Händen der türkischen Behörden sei. "Wir wollen doch keinen Märtyrer schaffen", soll Ecevit seinen Kabinettskollegen gesagt haben. "Ein toter Öcalan wäre zu gefährlich." Im Klartext also: Eine Hinrichtung des Kurdenchefs würde mit Sicherheit eine neue Spirale der Gewalt in Südostanatolien auslösen. Solange er dagegen um sein Leben bangen muss, werden sich seine wenigen, aber keineswegs restlos zerschlagenen Anhänger zurückhalten, um Öcalans Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Gerade deshalb hat Ecevit eine Warnung an die PKK gerichtet: Die Frage der Hinrichtung könnte wieder aktuell werden, sollte die PKK das Stillhalteabkommen nicht respektieren. Hinzu kommt: Ankara hofft insgeheim, dass sich moderate kurdische Kräfte als Gegenpol zu Öcalan profilieren. Eine Hinrichtung des PKK-Chefs würde diese Strategie vernichten. (SAD)