Die Presse (Wien), 14.1.2000

Gewieft-riskante Strategie im Fall Öcalan

Der türkische Premier hat das Schicksal Öcalans in die Hände der PKK gelegt.

DIE ANALYSE von CHRISTIAN ULTSCH

Sieben Stunden mußte der türkische Premier Bülent Ecevit verhandeln, ehe er Devlet Bahceli, den Chef der mitregierenden Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), auf Linie brachte: Der zum Tode verurteilte Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, wird vorerst nicht hingerichtet. Über Sein oder Nichtsein des Staatsfeindes Nummer eins soll das türkische Parlament erst dann entscheiden, wenn der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sein Urteil im Fall Öcalan gesprochen hat. Das kann bis zu zwei Jahre dauern. Rechtlich wäre die Türkei an den Schiedsspruch allerdings nicht gebunden. Ecevit spielt auf Zeit. Müßte das Parlament jetzt über Öcalans Schicksal entscheiden, wären nicht nur das Leben des PKK-Chefs, sondern auch die Regierungskoalition und die türkischen EU-Träume in höchstem Maße gefährdet. Bahcelis Erben der "Grauen Wölfe" verdanken ihren Sitz in der Regierung der nationalistischen Aufwallung nach der Verhaftung Öcalans. Sie sind es ihren Wählern schuldig, daß der "Babymörder" hängt. Ecevit tritt hingegen offen gegen eine Hinrichtung Öcalans ein. Erstens ist er ein erklärter Gegner der Todesstrafe, zweitens will er einen Rückschlag in den Beziehungen zur EU verhindern, und drittens möchte er die militärisch tote PKK nicht durch einen Märtyrer zu neuem Leben erwecken. Ein Zugeständnis mußte Ecevit den Heißspornen in seiner Regierung allerdings machen: Sollte die PKK den Aufschub dazu nützen, um den "Interessen der Türkei zu schaden", dann werde die Akte Öcalan unmittelbar an das Parlament weitergeleitet, erklärte Ecevit. Im Klartext: ein Terroranschlag, und der Galgen für Öcalan wird aufgebaut. Die neue Strategie ist gewieft und gefährlich zugleich. Das Schicksal Öcalans liegt nun in den Händen der PKK. Aber kann die Organisation ihre Kämpfe weiterhin zurückhalten? Erst unlängst warnte die PKK-Führung vor einer Splittergruppe, die sich dem Friedensaufruf Öcalans widersetzt habe.