Gelnhäuser Tagblatt, 14.1.2000

Kommentar

Öcalan: Kopf noch in der Schlinge

Kommentar zur Verschiebung der Entscheidung über Öcalans Hinrichtung seitens der türkischen Regierung

Von Gaby Backhuß

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die türkische Regierung will noch nicht über die Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan entscheiden, will eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten. Damit hat die türkische Regierung das Votum über das Schicksal des kurdischen Separatistenführers lediglich ausgesetzt, die Todesstrafe schwebt weiter im Raum, Öcalans Kopf steckt noch in der Schlinge.

Im Lande hat sich die Regierungs-Koalition trotzdem keine neuen Freunde gemacht, im Gegenteil, sie verliert obendrein die erst frisch hinzugewonnenen. Denn: Für die türkische Bevölkerung ist und bleibt Öcalan ein Terrorist, der beim Kampf für die Freiheit seines Volkes rücksichtslos über Tausende Leichen gegangenen ist - viele haben einen Sohn, einen Vater oder einen Onkel verloren. "Ich will, dass er hängt", schimpft ein Mann in Istanbul empört über die verschobene Abstimmung des Parlaments. Enttäuscht ist er vor allem über das plötzliche und überraschende Einknicken der an der Regierung beteiligten rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Deren knallharte Linie gegen die PKK und Öcalan bescherte ihr nämlich regen Zulauf bei den Wahlen im April. Nun fühlen sich diese Wähler verraten und betrogen.

MHP-Chef Devlet Bahceli selbst ist dieses Umschwenken nicht leicht gefallen. Zähneknirschend habe er nach siebenstündiger Sondersitzung eingelenkt, mit versteinerter Miene kommentierte er die Verschiebung der Entscheidung. All dies sind Zeichen dafür, dass diese Verschiebung über das Schicksal Öcalans bereits als Entscheidung, ihn nicht hinzurichten, empfunden wird. Doch auch wenn die türkische Bevölkerung das anders, weil emotional sieht: Öcalan nicht hinzurichten wäre von den türkischen Parlamentariern überaus weitsichtig gedacht, dient dem Land, der Türkei, der Demokratisierung - zumindest in Europa.

Die Vollstreckung der Todesstrafe - es wäre in der Türkei die erste Hinrichtung seit 1984 - würde Ankaras EU-Beitritt wieder in weite Ferne rücken. Dabei war die Türkei doch erst im Dezember auf dem EU-Gipfel in Helsinki als Beitrittskandidat nominiert worden. Als Bedingung für einen Beitritt fordert Europa von Ankara unter anderem und unter wichtigstem die Abschaffung der Todesstrafe. Die Türkei im Schoße der Europäischen Union - diese Aussicht auf dauerhafte wirtschaftliche Stabilität ist verlockender, weil weitreichender und nachhaltiger, als die, der von Rachegelüsten und Hass bewegten Bevölkerung kurzfristige Genugtuung zu verschaffen.

Dennoch: Wenn es im Parlament zur Abstimmung kommt, wird die Mehrheit vermutlich für Öcalans Hinrichtung stimmen. Eine Verschiebung einer Entscheidung ist keine Lösung. Nur die Abschaffung der Todesstrafe wäre eine.