Die Welt, 14.1.2000

Kommentar

Öcalans Anstoß

Kommentar von Dietrich Alexander

Die Türkei ist durch die Causa Öcalan ein anderes Land geworden. Der Kabinettsbeschluss, den Spruch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abzuwarten, bevor man über den PKK-Chef richtet, zeugt von einer Weitsicht, die noch vor kurzem niemand im Ausland erwartet hätte, erinnert man sich an die Spannungen und auch Turbulenzen rund um den Öcalan-Prozess.

Der Kabinettsbeschluss jedenfalls beweist, dass Ankara bemüht ist, dem Vertrauensvorschuss der europäischen Staatenfamilie gerecht zu werden. Die türkische Regierung hat verstanden, dass eine Hinrichtung des Terroristen Öcalan zwar das rachsüchtige Volk besänftigen, die in Helsinki aufgestoßene Tür nach Europa aber wieder zuschlagen würde. Premier Ecevit weiß, dass dieser Preis sein Land teurer zu stehen käme. Und selbst seine nationalistischen Koalitionspartner hängen zu sehr an der gerade gewonnen Macht, als dass sie sie riskierten, nur um ihr Klientel mit dem Kopf Öcalans zu bedienen.

Und der Krieg in Südostanatolien? Der ist spätestens jetzt beendet. Viele PKK-Kader - nicht alle - wissen es schon längst. Nun muss auch die türkische Armee umdenken, ein vielleicht noch schwierigerer Prozess. Ecevits innenpolitischem Geschick wird es obliegen, den Kurden mehr kulturelle Rechte zuzugestehen und doch darüber den sozialen Frieden in der Bevölkerung nicht aus den Augen zu verlieren. In der Türkei, das spürt man, hat eine neue Ära begonnen. Natürlich ist dies nicht Öcalans Verdienst. Aber er wurde mit seiner Verhaftung zum Katalysator eines notwendigen gesellschaftlichen Wandels.