Süddeutsche Zeitung, 14.1.2000

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Ankaras Reifeprüfung

VON WOLFGANG KOYDL

Leicht haben es sich der türkische Regierungschef Bülent Ecevit und seine Koalitionspartner gewiss nicht gemacht. Mehr als sieben Stunden lang saßen sie einander unter einem Atatürk-Porträt gegenüber und beratschlagten über das weitere Schicksal des kurdischen Parteiführers Abdullah Öcalan: Sollte man das über ihn verhängte Todesurteil vollstrecken oder lieber einen Spruch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten?

Die langwierigen Mühen der Spitzenpolitiker waren gerechtfertigt. Denn von ihrer Entscheidung hing mehr ab als das Leben des einstigen Rebellenchefs oder die Existenz der Regierung. Es ging darum, welchen Platz die Türkei künftig einnehmen wird: Eigenbrötlerisch und erstarrt in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, oder als Teil einer weltoffenen, modernen und aufgeklärten europäischen Völkerfamilie.

Um es vorwegzunehmen: Die Türkei hat sich diese Woche für die zweite Variante entschieden. Der Beschluss, den Ecevit eher mürrisch und mit dürren Worten vortrug, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Zum ersten Mal will eine türkische Regierung in einer hochsensiblen Frage freiwillig die Entscheidung einer europäischen Instanz abwarten. Dies bedeutet nichts anderes als den Verzicht auf ein Stück nationaler Souveränität, und das wiederum ist der härteste Test für die Europareife eines Staates.

Sicher, Ecevit und seine Kollegen haben sich Hintertürchen offen gehalten. Die Wortwahl ihrer gemeinsamen Erklärung ist bewusst schroff, ja trotzig. Man will nicht zeigen, dass man sich etwas vergibt, und außerdem musste man dem Nationalistenführer Bahceli propagandistisches Futter geben, das dieser seinen vor Zorn kochenden "Grauen Wölfen" zur Beruhigung vorwerfen kann. Der eher humorlose Politiker selbst flüchtete in einen unfreiwilligen Wortwitz, als er seine Zustimmung zu dem Regierungsbeschluss erläutern sollte. "Was gut für Devlet ist, ist gut für unsere Partei", meinte er. Devlet heißt auf türkisch Staat, ist aber auch der Vorname von Bahceli.

All dies schmälert nicht die Bedeutung der bemerkenswerten Entscheidung von Ankara. Denn sie war, anders als ähnliche, frühere pro-europäische Bekenntnisse türkischer Regierungen, diesmal nicht wohlfeil zu haben. Dieser Beschluss tut weh, und er kann zudem echte innenpolitische Probleme nach sich ziehen.

Es ist falsch, den Krieg im Südosten mit europäischen Augen allein als aufrechten Kampf eines edelmütigen, tapferen Bergvolkes gegen eine grausame Unterdrückernation zu betrachten. Auch Öcalan und seine Kämpfer waren in der Wahl ihrer Mittel nie zimperlich. Auch sie töteten mit kaltem Blut Alte und Schwache, Frauen und Kinder. Nicht nur Kurden haben gelitten; es gibt auch kaum eine türkische Familie, die nicht direkt oder indirekt von diesem Krieg betroffen war - sei es, weil sie einen Angehörigen verlor, sei es, weil sie in wirtschaftliche Not gestürzt wurde. Diese Menschen können nur schwer verstehen, warum ausgerechnet jener Mann, den sie für die Gewalt und die Toten verantwortlich machen, ungeschoren davon kommen soll. Es ist kein Zufall, dass gerade in den jüngsten Tagen Berichte über die Haftbedingungen Öcalans auf der Insel Imrali der Presse zugespielt wurden; und es ist noch weniger ein Zufall, dass sich diese Artikel ein wenig lasen wie Berichte aus einem Club-Med-Feriendorf.

Lautstarke Wortführer dieser schweigenden Masse sind die "Märtyrer"-Familien, die einen Sohn, Mann oder Bruder im Kurdenkrieg verloren haben. Sie sind straff organisiert, haben enge Kontakte zum Militär, und sie sind zu allem fähig. Massendemonstrationen haben sie angedroht, und in Istanbul haben bereits zwei junge Männer versucht, sich selbst zu verbrennen. Übergriffe auf Politiker sind künftig nicht auszuschließen. Noch ominöser ist indes ein anderes Zeichen: An der jüngsten Protestkundgebung der "Märtyrer"-Mütter in Ankara nahmen auch Soldaten und Offiziere in Zivil teil - ein Indiz dafür, dass sogar im anscheinend monolithischen Militär die Meinungen über "Apo" auseinander gehen. Fürs erste hat sich der europäische Flügel durchgesetzt. Er steht hinter der Entscheidung von Ankara.

Mindestens anderthalb Jahre werden die Richter des Menschenrechtshofes in Straßburg benötigen, um in der "Causa Öcalan" ein Urteil zu fällen. In der Politik, wo meist nach Wochen gerechnet wird, ist dies eine lange Zeitspanne. In der türkischen Politik mit ihren Überraschungen scheinen sich 18 Monate gar in der Unendlichkeit zu verlieren. Viel kann in dieser Zeit geschehen - Positives wie Negatives. Deshalb muss diese Zeit genutzt werden. Es gilt, in den nächsten Monaten - ausdauernd und geduldig - ein Netz zu knüpfen, das die Türkei immer enger und fester an Europa bindet. Dieser Prozess ist schmerzhaft und schwierig, und dabei ist er noch nicht einmal spektakulär. Andere Europäer können ein Zeugnis davon ablegen, unter welchen Mühen sie den steinigen Weg in die Union zurückgelegt haben. Er ist eigentlich nur zu bewältigen, wenn man selbst dazu entschlossen ist. Bislang hat die Türkei diesen Willen vermissen lassen. Doch seit dem Beschluss von Ankara hat sie den richtigen Weg eingeschlagen. Das verdient Anerkennung - und Unterstützung.