Frankfurter Rundschau, 14.1.2000

Menschenrechts-Prüfstein

Ausgerechnet der Terrorist Öcalan ist zu einem Kriterium für die Europatauglichkeit der Türkei geworden

Von Jochen Siemens

Wer im Zusammenhang mit zukünftigen EU-Erweiterungen in Sachen Türkei auf die alte Formel Wandel durch Annäherung gesetzt hat, darf sich ein Stück weit bestätigt fühlen. Die Entscheidung der türkischen Regierung, die Hinrichtung von PKK-Chef Öcalan auszusetzen, bis sich der Europäische Gerichtshof zu dem Todesurteil geäußert hat, mag innenpolitisch schwierig erscheinen, hält aber die Tür nach Europa offen. Nur wenige Wochen nachdem die Türkei beim EU-Gipfel in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten bekommen hat, wäre jede andere Entscheidung ein schwerer Affront gegenüber Europa gewesen. Der Beschluss, Öcalans Leben vorerst zu schonen, hellt die Menschenrechtssituation in der Türkei nicht schlagartig auf, lässt aber hoffen. Und bei näherem Hinsehen kann die Entscheidung Ankaras auch innenpolitisch so schwer nicht gewesen sein. Ein lebender Öcalan lässt sich trefflich instrumentalisieren. Jeder PKK-Anschlag, so ist schon zu hören, könnte den seidenen Faden, an dem das Leben des PKK-Chefs hängt, durchtrennen. So kann man die kurdische Minderheit entweder disziplinieren oder jedenfalls schwächen, sollten sich radikale Gruppen abspalten.

Es ist nicht vorstellbar, dass der Europäische Gerichtshof sich für die Vollstreckung der Todesstrafe an Öcalan ausspricht. Aufgeschoben ist folglich aufgehoben. Es entbehrt nicht einer makabren Note, dass ausgerechnet der Terrorist Öcalan, an dessen Händen Blut klebt, zu einem Prüfstein für die Europatauglichkeit der Türkei geworden ist.